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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Herbst.
    Der alte Mann auf der Parkbank war jemand, auf den dies alles zutreffen mochte. Die Faszination, die er auf Lara ausübte, hätte sie ohnehin eines Tages mit ihm sprechen lassen, aber da er die einzige menschliche Person weit und breit war, ließ es sich ohnehin nicht umgehen, ihn um eine Auskunft zu bitten.
    Tom und Lara waren in den südlichen Teil der Stadt hinabgestiegen, hinaus aus der Burg und durch das Adelsviertel mit all seinen Villen, die in den unterschiedlichsten und schillerndsten Stilrichtungen erbaut waren. Ob Gotik, Barock, Romantik oder Jugendstil – alles war vertreten. Alles, was die unbedingte Extravaganz eines abgehobenen Lebens unterstreichen sollte. Wer hinter solchen Mauern glücklich wurde und wer es sich nur einzubilden vermochte, stand in anderen Liedern geschrieben. Sie hatten den Ratsplatz passiert, an dem majestätisch das palastartige Ratsgebäude sowie die verwinkelte und verschachtelte Stadtwache lagen – jenes Gebäude, das den Nachtwächtern als Hauptquartier diente und angeblich ein wahres Labyrinth beherbergen sollte. Dann ging es aus der Oberstadt hinab, vorbei am Viertel der Schreiber, in dem die gewaltige Bibliothek Ravinias stand, ein monumentales Bauwerk mit achteckigem Grundriss, sowie das Scriptorium, ein Gebäude, das wirkte, als habe man ehedem viele einzelne Häuser – große und kleine, laute und leise – einfach wahllos miteinander durch seltsame Erker, Gänge und Mauern verbunden und anschließend sämtliche Dächer feuerrot angestrichen. Es beheimatete den Hauptsitz der Zunft.
    Gegenüber lag die Jacobs-Synagoge, weiß strahlend, umgeben mit dunklen Gattern, in der Rabbi Friedmann angeblich einmal tätig gewesen war. Tom schwieg sich darüber aus. Seine Vergangenheit gehörte ihm und nur ihm allein, was man allerdings auch jederzeit von seiner Gegenwart behaupten konnte.
    Hinter der Synagoge schließlich erstreckte sich eine Art Friedhofsmauer, die vielleicht zweieinhalb oder drei Meter hoch war und einen ganzen Bereich der Stadt abzutrennen schien. Sie begann an dem felsigen Abhang, über dem die Oberstadt lag, und zog sich hinunter, bis sie in einem aus Bruchsteinen erbauten, grauen Haus mündete, das seinerseits wie eine gutartige Geschwulst direkt aus der Stadtmauer zu wachsen schien. Ein schmaler Weg, der nicht einmal gepflastert war, wand sich hinter der Synagoge still und heimlich um die Häuser des Viertels und führte zu eben jenem Gebäude, das sich lediglich als weiteres Torhaus in der Mauer entpuppte.
    Â»Die botanischen Gärten sind seltsam. Sei vorsichtig mit dem, was du tust, mit dem was du siehst oder meinst zu sehen«, warnte Tom, als sie sich auf dem kleinen Trampelpfad dem Tor näherten.
    Alles war seltsam an dieser Stadt, so viel war sicher. Da würden die botanischen Gärten sicherlich keine Ausnahme bilden. Aber Lara verzichtete auf eine derart schnippische Bemerkung. Denn gerade, als sie das Tor durchschreiten wollten, gab es einen Rums, und im Staub vor ihnen landete eine Kreatur, die allein durch ihr Gewicht beim Aufprall zwei kleine Krater unter ihren Füßen hinterlassen hatte. Oder unter dem, was man am ehesten als ihre Füße bezeichnen konnte. Eigentlich waren es Krallen oder Klauen. Zwei riesige Flügel ruderten kurz, um für Gleichgewicht zu sorgen, dann stand das Wesen sicher und baute sich vor ihnen auf. Zwar ging es Lara nur bis zur Schulter, allerdings hegte sie keine Zweifel, dass das im Falle eines Falles gleichgültig wäre, denn es sah nicht nur kräftig und wild aus, nein, es war obendrein aus Stein.
    Â»Ihr seid keine Alchemisten«, stellte das Wesen mit einer Stimme fest, die klang, als würde man große Mühlsteine gegeneinanderreiben.
    Tom blieb – wie eigentlich immer – völlig unbeeindruckt.
    Â»Nein, aber wir suchen welche«, antwortete er dem steinernen Torwächter, der sie aus den kleinen, steinernen Augen seines Hundekopfes musterte.
    Ein Wasserspeier. Das war Laras Gedanke. Ein Wasserspeier, der hinuntergeflogen kam von seinem Nest in der luftigen Höhe eines Kathedralenturms, um ihnen den Weg zu versperren und ihnen knirschende Fragen zu stellen.
    Einen Augenblick lang herrschte eine Spannung unter dem Torbogen, als wäre die Luft um alle Beteiligten herum statisch aufgeladen. Dann knirschte der lebendige Wasserspeier: »Tom Truska, nehme ich an?«
    Tom

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