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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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museum, sang Joni Mitchell in Laras Kopf, während sie sich ihren Weg über ein Feld aus eigenartigen Schlingpflanzen suchten, die im Wachsen alle paar Dezimeter einige kleine Zöpfe gebildet hatten, aus denen sich drei oder vier dünne Triebe zu einem kräftigen Strang zusammenflochten. Die Efeuwand lag vielleicht noch hundert Meter vor ihnen, als das Schlingpflanzengebilde ohne erkennbaren Grund anfing zu rascheln. Zuerst war es nur ein leises Rauschen, das Lara neugierig werden und stehen bleiben ließ. Einige armlange Enden der Ranke ragten aus dem dichten Gestrüpp heraus und wiegten sich wie beschworene Schlangen im Takt eines lauen Windes, der vom Fluss her in die botanischen Gärten hinaufwehte. Einen Augenblick lang wirkte es wie ein stummer Dialog, den es zwischen neugieriger Pflanze und neugieriger junger Frau zu führen. Einige Schritte weiter bemerkte ein in Gedanken versunkener Tom, dass seine Begleiterin einmal mehr ins Trödeln geraten war, so wie sie es noch oft tun würde in den nächsten Jahren – zumindest befürchtete er das. Seine Augen weiteten sich, während Lara den Moment nicht bemerkt hatte, als das interessierte Wiegen der Ranken in das gierige Lauern der Schlange Kaa übergegangen war, und so konnte Tom nicht einmal mehr zu einem Warnruf ansetzen.
    Die geflochtenen Arme der Ranke schossen wie Tentakeln auf Lara zu und umschlossen ihre Gliedmaßen schneller als jeder erstickte Schrei. Von der Geschwindigkeit und der Kraft des botanischen Monsters überwältigt, machte Lara einen panischen Versuch, sich loszureißen, aber die Ranken hielten stand, bildeten Knoten und verflochten sich zu schenkeldicken Strängen. Lara wurde umgerissen und schlug mit dem Hinterkopf auf dem sandigen Boden auf, sodass ein Meer von Sternen ihr Blickfeld überspülte.
    Langsam zogen die beblätterten Tentakelarme die hilflose junge Frau zu sich. Das Gestrüpp, der Körper, der der wallende Kern einer Art kollektiven pflanzlichen Intelligenz sein mochte, wimmelte nun von kleinen und großen Ästen, Auswüchsen und Ranken. Manche der wuselnden Ärmchen zogen sich zurück oder richteten sich auf und gaben einen Schlund frei in ihrer Mitte, der schwärzer als die Nacht schien. Wohin das Ungetüm sie zu verschlucken gedachte, wollte Lara sich am besten gar nicht ausmalen, sondern strampelte stattdessen heftig und heftiger, um sich aus der florierenden grünen Umklammerung zu befreien. Sie wollte schreien, aber schon knebelte ein weiterer geflochtener Strang sie mit einer Kraft, die sich sicherlich mit der einer Würgeschlange messen konnte. Viel schlimmer war jedoch, dass auch ihre Nase umrankt wurde. Sie bekam keine Luft mehr. Die Pflanze drohte sie zu ersticken. Fieberhaft überlegte Lara, wie sie sich noch aus ihrer Lage befreien oder wie sie wenigstens wieder etwas Luft bekommen könnte, bevor ihr die Sinne unweigerlich schwinden würden. Ein Pflanzenarm schlug ihr mit Wucht gegen die Schläfe, sodass ihr Körper kurz erschlaffte, und das Monstrum setzte an, sie noch schneller ins lichtlose Zentrum seines Grauens zu ziehen.
    Da waren die Pflanzenarme plötzlich fort, und Lara fiel auf den Erdboden. Tom war gestolpert in dem Versuch, sie mit sich fortzuziehen. Sie spuckte den Sand aus.
    Â»Wie hast du …«, setzte sie an, doch Tom rappelte sich in panischer Schnelligkeit wieder auf und deutete ein paar Meter hinter sie, dorthin, wo sich die Schlingpflanze tobend vor Wut aufbäumte und mehrere Dutzend drohender Tentakeln sich unaufhaltsam nach ihnen auszustrecken begannen. Weglaufen hatte keinen Zweck, die Pflanze war sicherlich schneller. Tom drückte verzweifelt auf etwas in seiner Hand herum. Es flackerte einen Sekundenbruchteil lang vor Laras Augen, doch nichts geschah. Toms Hand fuhr in die Manteltasche und holte den riesigen Schlüsselbund hervor, nur um ihn ratlos und ohne Hoffnung anzustarren.
    Eine einzelne kleine Ranke mit vielen Blättern drängelte sich an Laras Hand vorbei. Angewidert zog sie sie weg, als sie plötzlich merkte, dass die kleine Ranke aus der anderen Richtung kam. Eine weitere Ranke folgte der ersten und noch eine und mehr und mehr. Eine Flut von kleinen vielblättrigen Ranken, dünn und zerbrechlich, schlängelten sich an Lara und Tom vorbei und um sie herum. Sie verflochten sich und wurden mehr und mehr, drehten sich, bildeten Knoten und schließlich eine Art Kokon um die

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