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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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nickte.
    Â»Dann dürft ihr passieren. Aber ihr steht – wie alle Nicht-Alchemisten – unter ständiger Beobachtung.«
    Ein Nicken von Toms Seite, woraufhin das steinerne Ungetüm mit dem Hundekopf unvermutet lautlos die Schwingen an seinem Rücken ausbreitete, sich vom Boden abstieß und ohne ein Geräusch verschwand.
    Â»Das war ein Wasserspeier«, stellte Lara fest. Sie hatte zwar schon mehrere Male beschlossen, sich nicht mehr über die sonderbaren Verhältnisse in Ravinia zu wundern, aber es fiel ihr trotzdem immer wieder schwer.
    Â»Ein Gargyl. Zumindest mögen sie es, wenn man sie so nennt«, erklärte Tom, und sie betraten die botanischen Gärten.
    Und Lara verschlug es den Atem. Vorsatz hin oder her.
    Vor ihnen lagen fünf oder sechs riesige, weitläufige Steinterrassen, groß wie ganze Felder. Die Stadtmauer fiel mit den Terrassen ab und umschloss sie vollständig, sodass man vom Tor aus einen wundervollen Blick über die Gärten hatte, deren Terrassen sich gemeinsam mit der Mauer nach Westen hin abstuften und den Blick auf den dunklen Fluss freigaben, auf dessen Niveau sich die unterste Terrasse befand. Links in einiger Entfernung erhob sich der gewaltige Abhang zur Oberstadt hin, über dessen Kante einige Villen hinausragten. An dieser Stelle war er über und über mit Efeu bedeckt.
    Auf den einzelnen Terrassen gab es Pflanzen in Hülle und Fülle. Bäume, Büsche, Sträucher, Gräser, Blumen, Orchideen. An einigen Stellen schienen sie kultiviert in Beeten oder Plantagen angebaut, an anderen Stellen wucherte alles über, ohne dass sich ein System erkennen ließ. Dazwischen standen alte Gewächshäuser, die einem vorherigen Jahrhundert entsprungen sein mussten. Der Anblick war überwältigend.
    Doch es war kein Mensch zu sehen.
    Abgesehen von dem uralten Mann, der auf einer Parkbank über allem thronte und mit zusammengekniffenen Augen auf den Fluss hinausblickte. Er hatte ein kariertes Jackett an und braune Hosen, die ihm viel zu kurz waren. Eine Schiebermütze und ein Gehstock komplettierten den Aufzug, und der Alte summte eine Melodie, die seinem Leben anscheinend einst ein wenig Wohlbehagen beschieden hatte.
    Lara tippte ihm auf die Schulter.
    Â»Sie strahlen ja«, sagte der Mann mit einem großväterlichen Lächeln, allerdings ohne den Blick vom Fluss abzuwenden.
    Â»Dabei bin ich gar nicht glücklich«, erwiderte Lara verblüfft.
    Â»Aber Ihre Augen strahlen. Setzen Sie sich doch!«, forderte er sie auf.
    Lara warf einen Blick über die Schulter zu Tom, der jedoch nur stumm nickte.
    Â»Wer sind Sie?«, wollte Lara wissen.
    Der alte Mann lächelte. Das Licht einer flimmernden Sonne brach sich zuerst im Kräuseln des dunklen Flusses, der Ravinia drohend umschloss, und anschließend in den großen, randlosen Brillengläsern.
    Â»Ist das so wichtig?«, fragte er. »Warum ist es den Leuten immer gleich so wichtig, wer man ist? Als ob Namen, Berufe oder Stände irgendetwas darüber aussagen würden, wer man wirklich ist.«
    Lara zuckte unbeholfen mit den Schultern. Bisher hatte der Alte sie nicht ein einziges Mal angesehen. Woher er überhaupt wissen wollte, dass sie strahlte – und was er damit meinte –, das leuchtete ihr nicht ein.
    Â»Aber ich sehe schon, wenn man jung ist, braucht man gewisse Haltepunkte«, fuhr er fort. »Ich bin Alistor Sullivan. Früher habe ich viel geschrieben, über das Leben und die Träume. Über Gott und Tod und Liebe, jene Dinge, mit denen sich beinahe alle Museen der Welt beschäftigen. Warum eröffnen sie nicht mal eines über das Lachen? Aber egal. Ich bin einfach ein alter Mann – wohl ein klassischer Vertreter einer alternden Stadt.«
    Â»Wieso altert die Stadt?«
    Nun blickte Alistor ihr zum ersten Mal in die Augen. Ein schmaler, haschender, aber ungleich milder Blick suchte sich seinen Weg hinter der großen Brille hervor.
    Â»Haben Sie sich schon einmal umgesehen, junge Frau? Die Stadt wird alt. Und damit meine ich nicht die Häuser und Mauern und Türme, denn die waren es immer schon. Nein, die Menschen werden alt. Es gibt so wenig junge Leute in Ravinia. Sie strahlen, weil Sie zu den jungen Leuten gehören.
    Früher waren die Zunftbücher in Ravinia übervoll mit Namen eifriger Lehrlinge, die es nicht erwarten konnten, Teil eines Wunders zu sein. Ich habe allerdings

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