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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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einen Schlüssel daraus gemacht, der zu einem Stromkasten führt?«
    Â»Nein, ich habe einfach nur einen Schlüssel daraus gemacht. Dass er nach Rhode Island führt, habe ich erst hinterher herausgefunden. Ich war noch in der Lehre. Hör auf, solche Fragen zu stellen, du bist immerhin mit heiler Haut davongekommen, oder?«
    Sie schwiegen, denn schweigen konnte man bekanntlich gut mit Tom.
    Als sie das Haus an der Royal Mile erreicht hatten, begegnete ihnen im Treppenhaus die alte Patty, die in der Wohnung gegenüber wohnte. Lara erklärte ihr, dass ihr Großvater gestürzt sei und im Krankenhaus liege. Patty schien das nicht zu beunruhigen, denn sie hielt Henry McLane für sehr viel rüstiger als sich selbst – und Lara fügte in Gedanken hinzu, dass Henry McLane auch nicht so sehr nach altem Menschen roch wie Patty dies tat. Bei dem weiteren Versuch, Patty abzuwimmeln, setzte diese sich dann in den Kopf, dass Tom sicherlich Laras erster fester Freund sei und sie die sturmfreie Bude nutzen wollten. Tom gegenüber war sie sehr skeptisch und deutete kurz an, dass ja offensichtlich schon ein gewisser Altersunterschied bestünde, den man nicht außer Acht lassen sollte.
    Patty war bei ihrer Begegnung im Treppenhaus so redselig, dass Tom ein entnervtes Seufzen von sich gab, als er die Wohnungstür der McLanes endlich hinter sich geschlossen hatte.
    Lara verschwand in ihrem Zimmer und packte einige Sachen in ihren Koffer. Als sie schließlich mit dem Koffer wieder im Flur stand, hob Tom eine Augenbraue.
    Â»Ist das alles?«, fragte er.
    Â»Wie meinst du das?«
    Â»Na ja, du bist eine Frau«, meinte Tom. Vielleicht sollte es ein Witz sein. Lara wusste es nicht, stattdessen sagte sie nur: »Schicksal.«

    Manchmal ist das Leben wie in einem Film, dachte Lara, als sie Toms Wohnung zum ersten Mal betrat. Wie in einem älteren Film, dessen Farben vielleicht noch die Übertriebenheit von Technicolor besitzen oder sich gerade auf dem Sprung davon weg befinden. Doch im Gegensatz zu Filmen ist das Leben sehr viel eindrucksvoller gestaltet.
    Tom wohnte im Torhaus der Burg Ravinia. Wie er dazu gekommen war, mochte er nicht erzählen. »Jedenfalls jetzt noch nicht«, war alles, was er Lara auf ihre Nachfrage hin zugestanden hatte. Das hieß für Lara aber, dass sie es vielleicht später einmal erfahren sollte. Sei’s drum. Das Hier und Jetzt zählte. Und in diesem Hier und Jetzt war Lara gerade durch das Türchen einer vermeintlichen Wachstube getreten und hatte sich in einem Treppenhaus wiedergefunden. Ursprünglich hätte sie hier staubige Holzleitern vermutet, aber offenbar waren diese im Laufe der Zeit durch eine – zugegebenermaßen etwas schief geratene – Wendeltreppe ersetzt worden, die sie hinaufstiegen, bis sie vor einer weiteren Tür haltmachten, die Tom mit einem normalen Schlüssel aufschloss.
    Die Wohnung war riesig. Sie hatte mindestens ein Dutzend Räume, und keiner hatte genau dieselbe Form wie der vorige. Der Bruchstein der Burgmauern alleine sorgte offenbar schon dafür, dass die Wände nicht eben waren. Aber auch der Fußboden wies Unebenheiten auf, die vor allem daher rühren mochten, dass die Wohnung sich auf verschiedenen Ebenen befand, da sie in der Mitte über den Torbogen der Burg hinausragen musste.
    Was die Wohnung allerdings über alles dominierte, waren Bücher. Große, kleine, dicke und ganz schmale, richtige Wälzer und Schmöker und kleine Broschüren, beinahe nur Hefte, solche mit uralten, dicken Ledereinbänden und solche, die nach frisch gekauftem Paperback aussahen. Beinahe alle Wände waren damit zugepflastert, wie die alten Straßen in Ravinia mit ihrem unregelmäßigen Kopfsteinpflaster. In einer Ecke entdeckte Lara entzückt einige Pergamentrollen über einem Schrank voll alter Bibeln. Zwei Meter weiter gab es riesige Atlanten aus allen Epochen der Buchmachergeschichte und daneben eine Originalausgabe von Goethes Gesamtwerk.
    Bücher schlangen sich um alles in dieser Behausung. Die Regale und Schränke waren allesamt selbst gezimmert und so den räumlichen Gegebenheiten angepasst. Sie mäanderten an Deckenbalken entlang, durch niedrige Durchgänge oder um die Fenster, die auf den Hof blickten. In Richtung der Stadt gab es lediglich einige Schießscharten, die allerdings auch vollständig von Büchern oder anderen lesbaren Materialien

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