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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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auch keine Erklärung dafür, woran es liegt. Vielleicht bringt die Welt weniger Talente hervor als in alter Zeit. Vielleicht findet die Jugend in anderen Dingen Erfüllungen, die es hier nicht gibt. Ich bin schon viel zu lange in Ravinia und habe wohl den Blick für die Welt, in der ich geboren wurde, verloren. Ich kann Ihnen nur erzählen, wie es hier in dieser Stadt ist, in diesem Wunder, auf dieser Bank in diesem Garten.
    Die Stadt der alten Meister. Das ist Ravinia geworden. Irgendwann – vor vielen Jahren schon – sind die Generationen ausgedünnt. Es gibt einfach viele alte und wenig junge Leute hier. Es ist einfach schön, Sie zu sehen, oder besser: dass Sie da sind.«
    Lara schwieg. Unsicher, was sie tun sollte.
    Â»Fragen Sie etwas anderes!«, forderte Alistor sie auf.
    Â»Wollen Sie nicht wissen, wer ich bin?«
    Â»Wenn es Sie beruhigt, kann ich Sie das fragen. Also, wer sind Sie?«
    Â»Ich heiße Lara McLane.«
    Die Schiebermütze samt altem Gesicht und steifem Hals drehte sich ein Stückchen in Laras Richtung. Die Augen leuchteten, obwohl sich keine Regung auf dem Gesicht zeigte.
    Â»Das ist schön«, meinte Alistor schließlich. »Das ist wirklich schön. Zumindest, wenn Sie wirklich diejenige sind, die Sie zu sein vorgeben.«
    Â»Warum das denn?«
    Â»Sind Sie nicht die Tochter unseres Mechanikerpärchens, den McLanes? Da bin ich fast sicher. Ich habe sie nicht häufig gesehen, aber Ihre Mutter hatte dieselben Haare wie Sie. Ein wenig wie Bernstein – viele Facetten ähnlicher Farbtöne.«
    Â»Arthur und Layla McLane?«
    Alistor nickte bedächtig.
    Â»Sie hatten einen schönen kleinen Laden. Und angeblich soll die ganze Stadt Kopf gestanden haben, als sie heirateten. Es muss eine der schönsten Hochzeiten aller Zeiten gewesen sein. Ich war leider damals nicht zugegen, doch die ganze Stadt hat noch tagelang davon gesungen. Sie haben echtes Glück, solche Eltern zu haben.«
    Â»Ich habe sie ja nicht mehr.«
    Â»Ja«, und für eine Sekunde hielt Alistor inne, aber dann zeigte er mit einem knorrigen Finger voller hervortretender Adern und Altersflecken dorthin, wo Laras Herz schlagen musste. »Aber Sie haben sie hier, und das kann Ihnen keiner nehmen.«
    Lara schluckte.
    Â»Ich kann Ihnen keine tröstenden Worte sagen«, gab der alte Mann bedauernd zu. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie in guter Gesellschaft sind. Denn Ravinia ist nicht nur die Stadt der alten Meister, sondern auch die Stadt der Waisen.«
    Â»So? Ich dachte, es gibt auch normale Familien hier.«
    Â»Es ist wie mit den alten Meistern. Es gibt nicht nur die alten. Aber sie dominieren das Erscheinungsbild. So ist es leider auch mit den Waisen. Fragen Sie doch Ihre Altersgenossen – sofern Sie welche kennen – nach ihren Familien. Ich fürchte, es ist ein ungeschriebener Preis, den dieser Ort von vielen fordert.«
    Sie schwiegen einen Moment.
    Â»Wissen Sie, wo ich die Alchemisten finde?«
    Â»Gehen Sie zum Hang. Dorthin, wo es die Oberstadt dünkt, über den Schicksalen der Stadt zu thronen. Der Efeu wird Sie passieren lassen, wenn Sie guter Absicht sind. Aber seien Sie vorsichtig, der Garten ist bissig.«
    Lara stand auf.
    Â»Danke«, sagte sie.
    Â»Nein, ich habe zu danken«, entgegnete Alistor.
    Â»Ich wünsche Ihnen noch viele schöne Tage hier«, verabschiedete sich Lara, verwundert darüber, wie der alte Mann sie in seinen Bann gezogen hatte.
    Â»Das Wichtigste ist bloß, dass Sie in der Zukunft noch mehr schöne Tage haben werden.«
    Und Alistor Sullivan zwinkerte ihr mit beiden Augen zu. Ein Großvaterzwinkern. Ernst und gütig und ohne die leicht schelmische Note, die sich in Baltasars Blick so oft finden ließ. Dann ging Lara zurück zu Tom, der sich nicht bewegt hatte, die ganze Zeit über nicht, sondern nur mit dem Blick auf dem dunklen Fluss verharrt war.
    Â»Du kennst den Weg doch schon«, sagte Lara endlich, nachdem sie schon einige Minuten über eine Plantage voller abstruser Pflanzen, magischen Gebilden aus vielerlei bunten Blüten, flaniert waren, um sich dem Efeuwall am Fuße der Oberstadt zu nähern.
    Â»Manche Gespräche sind vielleicht wichtig«, entgegnete Tom bloß.
    Â»Aber dieses?«
    Â»Wer weiß?«
    Lara seufzte und sagte wieder einmal: »Schicksal.«

    They took all the trees, and put ’em in a tree

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