Readwulf
geistigen Umnachtung?
Durcheinander und selbstmitleidig ging ich in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ruhe und ein wenig die Augen zu schließen, war alles was ich wollte.
»Alles wird gut, Jules«, raunte ich im Halbschlaf. Dann entschwand ich ins Land der Träume.
Ich fantasierte bereits seit einigen Nächten von der seltsamen Lichtung, von dem faszinierenden Mann. Erneut trafen wir uns im Wald. Er war in Schwarz und ich in Grün gekleidet. Alles war so klar erkennbar, nur sein Gesicht nicht.
Diesmal teilte eine schier endlos hohe Mauer aus dicken Glasbausteinen die Lichtung in zwei Hälften. Er stand auf der einen, ich auf der anderen Seite. Mit den Fingerkuppen berührte ich die Wand. Sie war kalt und glatt. Er tat es mir gleich und dann kratzte er mit dem Nagel über die eisige Fläche.
Instinktiv presste ich die Hände auf meine Ohren, als mir klar wurde, wie still es hier war. Außer einem dumpfen Hallen erreichte mich kein Laut.
Er gestikulierte mit den Händen und deutete nach oben. Ich schüttelte den Kopf, denn ich verstand nicht was er mir sagen wollte. Einen Schritt trat er nach vorn, ganz nah an die Mauer und legte seinen Handrücken auf. Als seine Fingernägel sich zu spitzen Krallen verformten traute ich meinen Augen nicht. Gefesselt starrte ich ihn an. Er nickte mir zu und da begriff ich. Ich hob die Hände und wartete darauf, dass auch meine Nägel sich verändern würden. Nichts passierte!
Er schüttelte den Kopf, sein Zeigefinger legte sich auf seine Schläfe und verweilte dort. Dann nickte er.
Ich versuchte es erneut und schloss dabei die Augen. Die Vorstellung von wachsenden Nägel erschien mir jedoch zu seltsam. Das konnte nicht funktionieren. Oder doch?
Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete ich die hässlichen Klauen und ich hoffte inständig, dass das kein Dauerzustand werden würde. Traum hin oder her, alles fühlte sich hier so real an.
Er stieß seine Hände in die Eiswand und kletterte elegant zwei Meter nach oben, dann stoppte er. Ich ahmte ihm auf meiner Seite in gleiche Höhe nach und dann gab ich Gas. Diesmal sollte er mir folgen.
Meine Aktion war waghalsig und atemraubend. Ich war vom Tempo wie berauscht. Die Mauer ragte schier unendlich bis in die Wolken. Ich blickte mich um und griff unachtsam daneben.
Mein freier Fall wurde plötzlich von seiner Stimme begleitet: »Luftkissen!«
Ich schloss die Augen und wartete auf den harten Aufprall, doch ich landete weich und unbeschadet.
Mein Herz sprang fast aus meiner Brust. Ich wagte nicht die Augen zu öffnen. Meine Hände fühlten den flatternden Stoff unter mir. Einen Sekundenbruchteil später spürte ich, wie er mich in seine Arme nahm und an sich presste.
Bitte, bitte lieber Gott - lass diesen Traum von Mann noch da sein, wenn ich meine Augen öffne.
Die Geschichte fand diesmal kein abruptes Ende. Sonst wachte ich in solchen Moment auf.
Ich blinzelte mit den Lidern und langsam wurde sein Gesicht deutlich erkennbar. »Du?«, schrie ich bis ins Mark erschrocken, als mich der mysteriöse Kerl lächelnd zuzwinkerte. Mit allem hatte ich gerechnet, mir gewünscht, endlich zu wissen, wer er war. Und dann so eine Enttäuschung.
»Das darf nicht sein«, kreischte ich, doch diesmal war ich bereits wach und wieder zurück in meinem Zimmer.
Wow! Ich hab seinen Geruch noch in der Nase.
Adrenalin schoss durch meine Adern, und ich war sofort von Null auf Hundert. Getrieben von Koffeinlust öffnete ich die Zimmertür und fragte laut den Flur hinunter: »Cloé, willst du einen Kaffee mit mir trinken?«
»Danke, hab schon einen. Komm, ich will dir jemanden vorstellen.«
Ich stutzte. Der so vertraute Duft kam nicht aus meinem Traum. Er war hier! In meiner Wohnung! Vermutlich hatte ich deshalb meinen Traummann so deutlich in ihm erkannt. Der Geruch wurde immer intensiver, je näher ich der Küche kam. Da saß er! Ich konnte es nicht glauben. Der Typ wirkte entspannt, hockte an unserem Küchentisch mit einer Kaffeetasse in der Hand.
Irritiert starrte ich ihn an. Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab, stand auf und kam mir entgegen.
»Mein Name ist Readwulf, ich glaube wir sind uns bereits zweimal begegnet.«
Cloé nickte und schmunzelte ihn an: »Das ist Juliette Pickering, meine Mitbewohnerin.«
Ich wollte ihm aus reiner Höflichkeit die Hand reichen, da ergriff er sie und verblüffte mich mit einem Handkuss, der an eine Verbeugung gekoppelt war.
Wie schnulzig, altmodisch. Was für ein Schleimer.
Ich zog meine Hand
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