Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
sie sich. Das darf ich nicht vergessen.
Jetzt weint er. Vesa Larsson. Vor kurzem erst war Rebecka sechzehn Jahre alt und saß im Keller der Pfingstkirche, zwischen seinen Malutensilien, um über Gott, das Leben, die Liebe und die Kunst zu sprechen.
»Denk an meine Kinder, Rebecka.«
Er oder die Mädchen.
Sie kneift die Augen zu, als ihr Finger den Abzughahn bewegt. Der Knall ist ohrenbetäubend. Als sie die Augen wieder aufschlägt, sitzt er in derselben Haltung da. Aber er hat kein Gesicht mehr. Eine Sekunde verstreicht, dann kippt sein Körper zur Seite.
Nicht hinschauen. Nicht denken. Sara und Lova.
Sie lässt die Waffe fallen und kommt auf alle Viere. Sie bebt vor Anstrengung am ganzen Leib, als sie Schritt für Schritt auf das Bett zukriecht. In ihren Ohren klingelt und lärmt es.
Saras eine Hand. Eine Hand ist genug. Wenn sie eine Hand schafft …
Sie kriecht über Curts leblosen Körper. Macht sich am Gürtel seines Overalls zu schaffen. Schiebt die Hand unter seinen Leichnam. Da ist das Messer. Sie öffnet die Scheide und zieht es hervor. Sie scheint die Hand in sein Blut getaucht zu haben. Jetzt hat sie das Bett erreicht.
Die Hand jetzt ganz ruhig halten. Nicht Sara schneiden.
Sie kappt die Hanfschnur und reißt sie von Saras Handgelenk. Drückt Sara das Messer in die Hand und sieht, wie ihre Finger sich um den Schaft schließen.
Jetzt. Ausruhen.
Sie lässt sich auf den Boden sinken.
Nach einer Weile sieht sie über sich die Gesichter von Sara und Lova. Sie packt Saras Ärmel.
»Nicht vergessen«, stöhnt sie. »In der Hütte bleiben. Die Tür geschlossen halten und Overalls und Decken um euch wickeln. Morgen früh kommen Sivving und Bella. Hörst du, Sara? Ich muss nur ein bisschen schlafen.«
Es tut nirgendwo mehr weh. Aber ihre Hände sind eiskalt. Sie hat Saras Arm losgelassen. Die Gesichter der beiden verschwimmen. Sie versinkt in einem Brunnen, und die Kinder stehen oben im Sonnenschein und sehen auf sie herunter. Alles wird dunkler und kälter.
Sara und Lova hocken einander gegenüber neben Rebecka. Lova schaut ihre ältere Schwester an.
»Was hat sie gesagt?«, fragt sie.
»Ich glaube, es hat sich angehört wie, ›Nimmst du mich auf?‹«, antwortet Sara.
DER WINTERWIND RISS WÜTEND an den mageren Birken vor dem Krankenhaus von Kiruna. Zog an ihren knorrigen Armen, die sich in den schwarzblauen Himmel reckten. Brach ihre gespreizten, steif gefrorenen Finger.
Måns Wenngren lief mit Siebenmeilenschritten am Stationszimmer der Intensivstation vorbei. Der kalte Schein der Neonröhren in der Decke prallte auf den gebohnerten Fußboden und die leicht gelbliche Betonwand des Ganges mit ihren unbeschreiblich scheußlichen weinroten Schablonenzeichnungen. Sein ganzes Wesen setzte sich gegen diese Eindrücke zur Wehr. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs vermischte sich mit dem fauligen Gestank von zerfallenden Körpern. Dazu das ewige Scheppern der Metallwagen, die Essen, Proben oder Gott weiß was transportierten.
Es ist aber immerhin nicht Weihnachten, dachte er.
Sein Vater hatte am ersten Weihnachtstag seinen letzten Herzinfarkt erlitten. Das war jetzt viele Jahre her, aber Måns erinnerte sich noch lebhaft an die quälend misslungenen Versuche des Krankenhauspersonals, auf der Station Weihnachtsstimmung hervorzurufen. Billige im Großhandel eingekaufte Pfefferkuchen zum Nachmittagskaffee, auf Papierservietten mit Weihnachtsmotiven. Und ganz hinten auf dem Gang eine Plastikkiefer. Die Nadeln schauten in die falsche Richtung und waren platt, nachdem der Baum ein langes Jahr im Karton hoch oben in einem Regal verbracht hatte. Kugeln, die farblich nicht zusammenpassten, hingen an Nähgarn von den Zweigen. Unter den untersten Zweigen lagen grellbunte Pakete, die leer waren, und das wussten alle.
Er schüttelte diese Erinnerung ab, ehe auch seine Eltern vor seinem inneren Auge auftauchten. Er drehte sich um, ohne stehen zu bleiben. Sein Wollmantel wehte wie ein Umhang hinter ihm her.
»Ich suche Frau Martinsson!«, brüllte er. »Arbeitet hier eigentlich irgendwer?«
Am Morgen war er vom Telefon geweckt worden. Die Polizei in Kiruna wollte wissen, ob er Rebeckas Chef sei. Ja, das schon. Die Polizei hatte keine nahen Angehörigen ausfindig machen können, vielleicht wusste man ja in der Kanzlei, ob es einen Lebensgefährten oder Freund gebe. Nein, davon hatte die Kanzlei keine Ahnung. Er hatte gefragt, was denn passiert sei. Am Ende hatte die Polizei mitgeteilt,
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