Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
Bei der Arbeit fand sie Ruhe. Ihr Unbehagen von vorhin war wie weggeblasen.
Das ist schon seltsam, dachte sie. Die ganze Zeit jammere ich mit den Kollegen darüber, wie schrecklich die Arbeit doch ist. Aber wenn ich arbeite, komme ich zur Ruhe. Finde fast eine Art Freude. Wenn ich dagegen nicht arbeite, dann überkommt mich die Unruhe.
Das Licht der Straßenlaternen bahnte sich mühsam einen Weg durch die großen, vielfach unterteilten Fenster. Noch immer waren im Klangbild von draußen einzelne Autos zu unterscheiden, aber schon bald würde die Straße sich in ein dumpfes Verkehrsdröhnen verwandeln. Rebecka ließ sich in ihrem Schreibtischsessel zurücksinken und begann mit dem Ausdrucken. Im dunklen Gang draußen erwachte der Drucker zum Leben und machte sich an den ersten Auftrag des Tages. Dann fiel die Tür bei der Rezeption ins Schloss. Rebecka seufzte und schaute auf die Uhr. Zehn vor sechs. Ihre Einsamkeit hatte ein Ende.
Sie konnte nicht hören, wer da gekommen war. Die weichen Teppiche auf dem Gang dämpften alle Schritte, aber nach einer Weile wurde die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet.
»Darf man stören?«
Es war Maria Taube. Sie stieß die Tür mit der Hüfte auf, denn sie hielt in jeder Hand eine Kaffeetasse. Rebeckas Computerausdruck klemmte unter ihrem rechten Arm.
Beide Frauen arbeiteten als frischgebackene Anwältinnen mit Spezialgebiet Steuerrecht in der Kanzlei Meijer & Ditzinger. Die Kanzlei lag im Obergeschoss eines schönen Jugendstilgebäudes in der Birger Jarlsgatan. Der Flur war von semi-antiken Perserteppichen bedeckt, und an einigen Stellen standen gediegene Sofas und bequeme Sessel aus altem Leder. Alles strahlte Erfahrung, Einfluss, Geld und Kompetenz aus. Es war ein Büro, das den Mandanten das Gefühl gab, sich hier in sicherer Obhut zu befinden und sorgsam betreut zu werden.
»Wenn man stirbt, wird man so müde sein, dass man sich wünscht, es gäbe kein Leben nach dem Tod«, sagte Maria und stellte eine Tasse auf Rebeckas Schreibtisch. »Aber das gilt natürlich nicht für dich, Maggie Thatcher. Wann bist du heute gekommen? Oder bist du gar nicht erst zu Hause gewesen?«
Sie hatten beide den Sonntagabend im Büro verbracht. Maria war als Erste nach Hause gegangen.
»Ich bin erst seit ein paar Minuten hier«, log Rebecka und nahm Maria den Ausdruck ab.
Maria ließ sich in den Besuchersessel sinken, streifte ihre viel zu teuren Lederschuhe ab und zog die Beine hoch.
»Was für ein Wetter«, sagte sie.
Rebecka schaute überrascht aus dem Fenster. Regen hämmerte gegen die Fensterscheibe. Ihr war das noch gar nicht aufgefallen. Doch dann fiel ihr ein, dass es schon geregnet hatte, als sie ins Büro gekommen war. Aber sie wusste nicht mehr, ob sie zu Fuß gekommen war oder die U-Bahn genommen hatte. Ihr Blick haftete wie hypnotisiert an dem Wasser, das gegen das Fenster prasselte und daran hinunterlief.
Stockholmer Winter, dachte sie. Kein Wunder, dass man sein Bewusstsein ausschaltet, wenn man das Haus verlässt. Zu Hause ist das anders. Mit mittwinterblauem Dämmerlicht und knisterndem Schnee. Oder im späten Winter. Wenn man auf Skiern von Omas Haus in Kurravaara am Fluss entlang zur Hütte in Jiekajärvi gelaufen ist und dann eine Pause macht und sich auf den ersten schneefreien Fleck unter einer Tanne setzt. Die Baumrinde, die in der Sonne kupferrot aufglüht. Der Schnee seufzt vor Erschöpfung, wenn er in der Wärme in sich zusammensinkt. Kaffee, Apfelsinen und belegte Brote im Rucksack.
Marias Stimme holte sie aus diesen Erinnerungen. Rebeckas Gedanken wehrten sich und wollten weiter ihren Gang gehen, aber sie riss sich zusammen und sah die erhobenen Augenbrauen ihrer Kollegin.
»Hallo! Ich habe gefragt, ob du die Nachrichten hören willst.«
»Sicher.«
Rebecka ließ sich im Sessel zurücksinken und streckte die Hand nach dem Radio auf der Fensterbank aus.
Himmel, was ist sie mager, dachte Maria und musterte den Brustkorb ihrer Kollegin, der sich unter deren Jacke abzeichnete. Auf den Rippen kann man doch glatt Xylophon spielen.
Rebecka drehte das Radio lauter, und die zwei Frauen saßen mit ihren Kaffeetassen da und senkten ihre Häupter wie zum Gebet.
Maria blinzelte. Dabei taten ihre müden Augen weh. Heute würde sie beim Bezirksgericht im Fall Stenman Berufung einlegen müssen. Måns würde sie umbringen, wenn sie ihn um noch mehr Zeit bäte. Sie spürte, wie ihr Zwerchfell brannte. Bis zum Mittagessen durfte sie keinen Kaffee mehr trinken. Hier saß sie
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