Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
sich. Sie ist aus einem anderen Grund gestorben. Es hatte nichts mit Mauri Kallis zu tun.
Er holt Atem. Der Frühling liegt wie schwarze Streifen in der Nachtluft. Der Wind ist warm und führt grüne Düfte mit sich. Im Sommer wird er sich ein Boot kaufen. Mit seiner Freundin durch den Schärengürtel segeln.
Dann denkt er nicht mehr. Als er vornüberkippt und auf die Steintreppe knallt, ist er bereits tot.
Der Scharfschütze ändert seine Position. Geht auf die andere Seite des Hauses. Große Esszimmerfenster. Er macht sich ein Bild vom Raum. Nur ein Wächter an der Wand im Esszimmer. Die anderen Gäste sitzen still da. Er teilt mit, dass die Bahn frei ist.
Ester Kallis legt den Hauptschalter um. Mit einigen raschen Bewegungen dreht sie die drei wichtigsten Sicherungen heraus. Sie wirft sie unter ein in der Nähe stehendes Regal. Sie hört, wie sie über den Boden rollen und liegen bleiben. Die Dunkelheit ist undurchdringlich.
Sie holt Atem. Ihre Füße laufen die Treppe hoch. Sie braucht nichts zu sehen. Ihre Füße jagen über einen schwarzen Pfad.
Und während ihre Füße dem schwarzen Pfad folgen, lebt sie selbst in einer anderen Welt. Man könnte es als Erinnerung bezeichnen, aber es passiert jetzt. Wieder. Es passiert jetzt ebenso sehr wie damals.
Sie steht mit eatnážan an einem Hang. Es ist im späten Frühling. Nur hier und da liegt noch ein wenig Schnee. Die ganze Zeit rufen Vogelscharen in der Luft. Die Sonne wärmt den Rücken der beiden Frauen. Sie haben ihre Jacken aufgeknöpft.
Sie schauen zu einem Bach hinunter. Durch das Schmelzwasser ist er mehrere Meter breit. Und er ist sehr schnell. Eine Rentierkuh geht ins Wasser und schwimmt an das andere Ufer. An Land stellt sie sich auf und ruft ihr Kalb. Sie lockt und lockt, und am Ende wagt das Kalb sich ins Wasser. Aber die Strömung ist zu stark. Das Kalb kann nicht an das andere Ufer springen. Ester und die Mutter sehen, wie die Strömung es mit sich reißt. Aber dann springt die Kuh wieder ins Wasser und holt das Kalb ein. Sie schwimmt um es herum, presst es mit dem Körper gegen die Strömung und schwimmt Seite an Seite mit ihm. Die Strömung ist stark, die Kuh streckt ihren Hals aus dem Wasser. Es ist wie ein Hilfeschrei. Als sie das andere Ufer erreichen, schwimmt sie auf der Stelle und hält die Strömung auf, damit das Kalb an Land klettern kann. Endlich stehen beide am anderen Ufer.
Ester und die Mutter sehen die beiden an. Sie sind so erfüllt vom Mut der Kuh. Von ihren starken Gefühlen für ihr Kalb. Und vom Vertrauen des Kalbes, wie es sich vor der Strömung gefürchtet hat und doch ins Wasser gesprungen ist. Sie sagen nichts, während sie zurück zur Rentierhirtenhütte wandern.
Ester geht hinter der Mutter. Versucht, ebenso lange Schritte zu machen, damit ihre Füße genau die Stellen berühren wie die der Mutter.
Mauri Kallis fragt seine Gäste, was sie zum Kaffee möchten. Gerhart Sneyers bittet um einen großen Cognac, Heinrich Koch und Paul Lasker ebenfalls. Viktor Innitzer trinkt Calvados, und General Helmuth Stieff wünscht einen Single Malt.
Mauri Kallis bittet seine Frau, sitzen zu blieben, und übernimmt selbst die Aufgabe, seine Gäste mit Getränken zu versorgen.
»Ich tausche die Kerzen aus«, sagt Ebba und geht mit den Leuchtern in die Küche, leicht gereizt, weil das gemietete Personal nicht bemerkt hat, dass sie fast heruntergebrannt sind.
Im Esszimmer steht ein Leibwächter. Er arbeitet für Gerhart Sneyers. Als Mauri Kallis sich erhebt und an ihm vorbeigeht, merkt er, wie diskret der Mann seine Aufgabe erledigt. Mauri hat während des ganzen Essens nicht einmal daran gedacht, dass er da war.
Deshalb wirkt es fast komisch, als der Leibwächter fällt, er reißt einen Wandbehang aus dem 16. Jahrhundert mit zu Boden. Mauri kann gerade noch an einen Jungen denken, der im dritten Schuljahr beim Luzia-Umzug zusammengebrochen ist. Gleich darauf erreicht das Geräusch von zerbrechendem Glas sein Bewusstsein. Danach erscheinen zwei Männer in der Türöffnung, und das alberne Ploppen eines Kugelhagels ist zu hören.
Dann erlischt alles Licht. In der Dunkelheit ertönen Paul Laskers wahnsinnige Schmerzensschreie. Und noch jemand schreit hysterisch, danach ist es plötzlich still. Der Kugelhagel hört auf, und nach zwei Sekunden sucht der Strahl einer Taschenlampe im Zimmer nach den kriechenden, rufenden, krabbelnden Menschen, die versuchen, sich zusammenzukrümmen und zu entkommen.
General Helmuth Stieff hat
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