Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
gesehen habe. Ja, die ich überhaupt jemals gesehen habe. Die Großmutter mustert mich mit festem Blick. Hier kann man nicht einfach nach Lust und Laune kommen und gehen und alles durcheinanderbringen. Die Staatsanwältin hat eine starke Beschützerin. Ich bitte die Großmutter um Erlaubnis, mit ihrer Enkelin zu reden.
Ich will niemanden erschrecken oder beängstigen. Ich will nur, dass sie Simon finden. Ich kann nirgendwohin. Ich kann es nicht ertragen, sie zu sehen. Anni ist zu Hause in ihrem rosa Eternithaus und macht sauber, schaut aus dem Fenster die Straße hoch. Tage vergehen, ohne dass sie mit einem einzigen Menschen spricht. Ab und zu nimmt sie den Tretschlitten und fährt ein Stück die Straße entlang. Ab und zu kämpft sie sich die Treppe zu meinem Zimmer hoch und betrachtet mein Bett.
Simons Mutter starrt seinen Vater hasserfüllt an, wenn er sein Essen hinunterschlingt und von zu Hause losstürzt. Die beiden sind trocken und wortlos. Er kann sie nicht ertragen. Anfangs hat sie versucht zu reden. Hat geweint und ihn nachts geweckt. Damit hat sie aufhören müssen. Er nahm sein Kissen, ging hinaus und legte sich auf das Wohnzimmersofa. Wenn sie ihn anflehte, doch etwas zu sagen, sagte er, er müsse am nächsten Tag aufstehen und zur Arbeit fahren. Sie hat keine Anklagen oder Bitten mehr. Sie muss ihren Jungen begraben dürfen.
Sie sagt zu den anderen Frauen, dass ihm das offenbar egal ist. Aber ich sehe seine lebensgefährlichen Überholmanöver. Die Lastwagen haben ihn im Winter angehupt, wenn er im Schneegestöber überholte. Bald wird er sich dabei den Hals brechen.
Ich jage über das Dorf. Die Nacht ist hell. Der Neuschnee hat sich über die dicke Decke aus Altschnee gelegt, der spätwinterschmutzig war, braun von Erde und Kies.
Hjalmar Krekula ist wach. Er steht auf seinem Hofplatz wie ein sommerfetter Bär. Gekleidet nur in lange Unterhose und T-Shirt. Zwei Raben sitzen auf seinem Dach. Sie stoßen ihre schnarrenden Laute aus. Hjalmar versucht, sie zu verjagen. Er holt Holzscheite aus dem Schuppen und bewirft die Raben damit. Er wagt nicht, zu schreien und zu brüllen, das Dorf schläft doch noch. Er kann nicht schlafen und klagt in Gedanken die schwarzen Vögel und das Licht und vielleicht etwas Unpassendes an, das er gegessen hat.
Die Raben heben mit einigen Flügelschlägen ab und ziehen auf eine hohe Kiefer um.
Die wird er nicht mehr los. Und in dieser Nacht ist mein Leichnam gefunden worden. Vielleicht wird jetzt im Dorf geredet werden. Endlich.
Freitag, 17. April
»WAS FÜR EIN verdammter Mist!«
Der Polizeiinspektor und Hundeführer Krister Eriksson knallte mit der Autotür und fluchte in die kalte, trockene Winterluft.
Seine schwarze Schäferhündin Tintin schnüffelte im Neuschnee auf dem Parkplatz vor dem Polizeigebäude.
»Was ist los?«, fragte jemand hinter ihm.
Es war Rebecka Martinsson, die Staatsanwältin. Ihre langen braunen Haare hingen offen unter der Strickmütze hervor. Sie war ungeschminkt und trug Jeans. An diesem Tag würde es also keine Verhandlung geben.
»Nur mein Auto.« Krister Eriksson lachte, sein Wutausbruch war ihm peinlich. »Es will nicht anspringen. Sie haben Wilma Persson gefunden, dieses Mädchen, das im Herbst verschwunden ist.«
Rebecka schüttelte fragend den Kopf.
»Sie und ihr Freund sind Anfang Oktober verschwunden«, erinnerte sie Krister. »Beide noch sehr jung. Alle nahmen an, dass sie zum Eistauchen unterwegs gewesen waren, aber niemand wusste, wo genau.«
»Jetzt weiß ich es wieder«, sagte Rebecka. »Und jetzt sind sie also gefunden worden?«
»Nein, nur das Mädchen. Im Torneälv, oberhalb von Vittangi. Es war ein Taucherunfall, genau wie angenommen. Eben hat Anna-Maria angerufen, ich soll kommen und mit Tintin suchen, vielleicht liegt der Junge ja in der Nähe.«
Die Polizeiinspektorin Anna-Maria Mella war Kristers Chefin.
»Wie geht’s denn Anna-Maria?«, fragte Rebecka. »Ich habe lange nicht mehr mit ihr gesprochen, und dabei arbeiten wir doch im selben Haus.«
»Sicher gut, aber du weißt, sie hat das Haus voller Kinder. Sie ist bestimmt schwer beschäftigt, wie die meisten anderen auch, nehme ich an.«
Er hatte das Gefühl, dass Rebecka ihn vollkommen durchschaute und wusste, dass er log. Anna-Maria ging es überhaupt nicht gut.
»Ich glaube, sie hat nicht mehr das gleiche gute Verhältnis zu den Kollegen wie früher«, sagte er. »Jedenfalls habe ich ihr gesagt, dass Tintin jetzt eigentlich nicht im Dienst ist. Sie
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