Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
Veranda eingeschlafen. Darüber tuscheln sie noch immer. Verleumden mich beim Chef und, ja. Verdammt, wirklich. Eigentlich sollte man sie verklagen.«
Rebecka hatte sich nach ihrer Begegnung mit dieser Frau total erschöpft gefühlt. Ausgelaugt und verstimmt. Sie hatte an ihre Mutter gedacht. Wenn ihre Mutter nicht so jung gestorben wäre. Hätte sie wohl auch am Ende eine solche Stimme bekommen?
Sivving riss sie aus ihren Gedanken.
»Du scheinst ja jedenfalls eine ereignisreiche Arbeit zu haben.«
»Ach, ich weiß nicht, gerade im Moment passiert gar nichts. Den ganzen Tag nur Trunkenheit am Steuer und Körperverletzung.«
Es schneit noch immer, als sie nach Hause geht. Aber jetzt hat die Lage sich beruhigt. Der Schnee stürzt nicht mehr vom Himmel, sondern rieselt in einem genießerischen Tanz. Das ist ein Schneefall, der glücklich machen kann. Große Flocken, die auf ihren Wangen schmelzen.
Es ist nicht dunkel, obwohl es schon spät ist. Die Nächte werden jetzt heller. Der Himmel ist von den Schneewolken grau verhangen. Die Konturen von Häusern und Bäumen verwischen. Als wären sie auf feuchtes Aquarellpapier gemalt.
Jetzt hat sie die Vortreppe erreicht. Sie bleibt für eine Weile stehen, hebt die Hände ein wenig und kehrt die Handrücken nach oben. Schneesterne landen auf den Fausthandschuhen, liegen dort und glitzern.
Ohne Vorwarnung wird sie von einem reinen weißen Glück überwältigt. Dieses Glück fährt durch ihren Körper wie ein Wind durch ein Gebirgstal. Kraft strömt aus dem Boden. Durch den Körper bis in die Hände. Sie steht ganz still da. Wagt nicht, sich zu bewegen, aus Angst, diesen Augenblick dadurch zu verjagen.
Sie ist eins mit dem Rest. Mit dem Schnee, mit dem Himmel. Mit dem Fluss, der verborgen unter dem Eis strömt. Mit Sivving, mit den Leuten aus dem Dorf. Mit allem. Allen.
Ich gehöre dazu, denkt sie. Vielleicht ist es so, dass ich dazugehöre, egal, was ich will oder empfinde.
Sie schließt die Tür auf und geht die Treppe hoch.
Das andächtige Gefühl ist noch immer vorhanden. Zähneputzen und Gesichtwaschen sind ein heiliges Ritual, die Gedanken haben angehalten, kein Gedrängel im Kopf, nur das Geräusch der Zahnbürste und des aus dem Hahn fließenden Wassers. Sie kleidet sich in ihren Schlafanzug wie in ein Taufgewand. Sie nimmt sich die Zeit, das Bett frisch zu beziehen. Fernseher und Radio bleiben stumm und blind. Måns versucht einmal, sie anzurufen, aber sie meldet sich nicht.
Sie schlüpft zwischen Laken, die sich ein wenig unbenutzt und ein wenig steif anfühlen und die sauber duften.
Danke, denkt sie.
Ihre Hände prickeln, sie sind heiß wie Saunasteine. Aber es ist nicht unangenehm.
Sie schläft ein.
Gegen vier Uhr wacht sie auf. Draußen ist es hell, die Schneewolken sind offenbar weitergezogen. Auf dem Bett sitzt ein junges Mädchen. Dieses junge Mädchen ist nackt. Sie hat zwei Ringe in der Augenbraue. Sommersprossen auf der Haut. Ihre roten Haare sind nass. Aus den Haaren läuft Wasser wie ein kleiner Bach ihr Rückgrat hinunter. Als sie spricht, strömt unaufhörlich Wasser aus ihrem Mund und ihrer Nase.
Es war kein Unfall, sagt sie zu Rebecka.
Nein, antwortet Rebecka und setzt sich im Bett auf. Ich weiß.
Er hat mich weggebracht. Ich bin nicht im Fluss gestorben. Sieh dir meine Hand an.
Sie hält Rebecka die eine Hand hin. Die Haut ist weggescheuert. Das Blut weggeflossen. Die Knochen ragen aus dem grauen Fleisch heraus. Der kleine Finger und der Daumen fehlen.
Die junge Frau schaut traurig ihre Hand an.
Ich habe mir die Nägel am Eis abgebrochen, als ich versucht habe, mich durchzukratzen, sagt sie.
Rebecka hat das Gefühl, dass die andere gleich verschwinden wird.
Warte, ruft sie.
Sie läuft hinter ihr her. Das Mädchen rennt durch einen Kiefernwald. Rebecka will ihr folgen, aber in ihrem Wald liegt der Schnee hoch und ist weich, sie sinkt bis zu den Knien darin ein.
Dann steht sie neben ihrem Bett. Die Stimme der Mutter im Kopf. Hör jetzt auf, Rebecka. Sei nicht so überspannt.
Es war nur ein Traum, sagt sich Rebecka. Sie legt sich wieder ins Bett und macht sich davon in andere Träume. Ein offener Himmel über ihrem Kopf. Schwarze Vögel, die aus Kieferwipfeln auffliegen.
ICH SUCHE DIE Staatsanwältin auf. Sie ist die Erste, die mich seit meinem Tod gesehen hat. Sie ist weit offen. Sieht mich deutlich, als ich mich auf ihr Bett setze. Ihre Großmutter steht in der Kammer. Sie ist die erste Tote, die ich seit meinem eigenen Tod
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