Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
öffnet das Paket und legt alles vor Rebecka auf die kleine Arbeitsfläche.
Sie liest die Titel laut: Mehrdimensionale Analysis, Discrete Mathematics, Mathematics Handbook.
»Die lesen sie an der Universität«, sagt Hjalmar, nicht ohne Stolz in der Stimme.
Dann fügt er wütend hinzu: »Ich bin kein Idiot, falls du das gedacht haben solltest. Schau mal in den Ordner, dann wirst du es sehen.«
»Ich habe nichts Besonderes geglaubt. Warum versteckst du das unter dem Boden?«
Er blättert in den Büchern.
»Mein Vater und mein Bruder«, sagt er mit trauriger Stimme. »Meine Mutter eigentlich auch. Es würde einfach solches Geschrei geben.«
Rebecka öffnet den Ordner. Darin liegt ein Abiturzeugnis von Hermods Fernstudium.
»Ich habe in meiner Freizeit hier gesessen«, sagt er. »Genau an diesem Tisch. Und gelesen und gekämpft. In den anderen Fächern. Mathe war immer leicht. Ich versteh das einfach. Hätte mit diesem Zeugnis studieren können, aber …«
In seiner Erinnerung ist es der Sommer 1972. Er ist fünfundzwanzig. In diesem ganzen Sommer nimmt er sich fest vor, seinem Vater und Tore zu sagen, dass er aus dem Fuhrunternehmen aussteigen wird. Um ein Studiendarlehen aufzunehmen und zu studieren. Er liegt nachts wach und erklärt den beiden alles. Manchmal verspricht er, es sei nur vorübergehend, und nach dem Studium werde er in der Firma wieder anfangen. Ab und zu sagt er, sie sollten sich zum Teufel scheren, und er würde lieber unter den Brücken schlafen, als zurückzukehren. Am Ende sagt er gar nichts.
»Ja, so hat es sich dann einfach nicht ergeben«, sagt er zu Rebecka Martinsson.
Jetzt sieht sie ihn wieder an. Das tut ihm weh. Etwas in ihm zerbricht. Er muss sich setzen. Der Holzstuhl vor dem Küchentisch steht am nächsten.
Sofort sind die Hunde da, alle beide. Sie lecken seine Hände.
Er weint. Seine Trauer strömt aus ihm heraus.
»O verdammt«, sagt er. »Mein Leben. Verdammt. Ich bin fett geworden, und ich habe geschuftet. Das da war mein einziges …«
Er nickt zu den Mathebüchern hinüber.
Er presst sich die Hand auf den Mund, aber er kann nicht aufhören, sein Weinen kommt in lauten Stößen.
»Hast du ein Tonbandgerät bei dir?«, würgt er aus sich heraus. »Bist du deshalb hier?«
»Nein«, sagt sie.
Und sie schaut, schaut, schaut. Eine Zeugin seiner Trauer. Als sie aus ihm herausbricht. Sie berührt ihn nicht. Vera legt ihm ihre Pfote auf das Knie. Tintin legt sich zu seinen Füßen.
Dann schaut sie zur Seite. Hjalmar steht auf und schiebt die Bücher wieder unter das Brett im Boden. Währenddessen betrachtet sie ein Schwarz-Weiß-Foto von einem Mann und einer Frau auf einer Vortreppe. Auf der untersten Treppenstufe sitzen zwei Jungen. Das müssen Hjalmar und Tore und ihre Eltern sein. Isak und, wie hieß die Mutter noch, Kerttu. Sie kommt ihr bekannt vor, findet Rebecka. Sie versucht, sich zu erinnern, ob sie dieses Bild vielleicht bei Anni Autio gesehen hat. Oder bei Johannes Svarvare. Nein.
Dann erkennt sie sie. Aus dem Album von Karl-Åke Pantzare. Dieses Mädchen, das zwischen Karl-Åke und seinem Freund Axel Viebke stand. Das muss sie sein.
Kerttu, denkt sie.
Und dann denkt sie daran, dass Hjalmar und Tore weißhaarig auf die Weise sind, wie rothaarige Menschen das eben werden. Ihnen ist anzusehen, dass sie rothaarig waren, und sie haben eine sehr helle Haut.
Der Fuchs, denkt Rebecka. Hat Karl-Åke nicht gesagt, dass die Engländer den unbekannten Informanten der Deutschen als den »Fuchs« bezeichnet haben? Auf Finnisch heißt Fuchs »kettu«. Kettu. Kerttu.
Ich schwebe über Annis Kopf, als sie sich mit dem Tretschlitten zu ihrer Schwester schleppt. Es dauert sicher fünf Minuten, bis Kerttu die Tür öffnet. Einen schmalen Spalt.
»Was willst du?«, fragt sie abweisend, als sie Anni draußen sieht.
»Warst du das?«, fragt Anni.
»Was meinst du?«
»Komm mir ja nicht so«, sagt Anni mit vor Wut zitternder Stimme. »Hjalmar war bei mir. Er war auf dem Weg zu seiner Hütte. Er hat gesagt, dass er … du hast sie dazu gebracht, stimmt’s?«
»Hast du den Verstand verloren? Geh nach Hause, und leg dich hin.«
»Und Tore! Dem hätte man schon vor langer Zeit eine ordentliche Tracht Prügel verpassen sollen.«
Kerttu versucht, die Tür zu schließen, aber Anni ist außer sich vor Zorn.
»Du, du …«, sagt sie, streckt ihre dünnen Arme durch den Türspalt und packt Kerttus Kleid, zieht sie hinaus auf die Vortreppe.
»Jetzt erzählst du mir alles«, sagt
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