Rebellen: Roman (German Edition)
strafte und mit einem unfähigen Senat, der es nicht einmal schaffte, die Bürgersteige von Berlins Prachtstraße Unter den Linden vom Eis räumen zu lassen.
Obwohl es erst Nachmittag war, strahlten die Straßenlichter, die Weihnachtsbäume und die weihnachtlich dekorierten Schaufenster in die frühe Dunkelheit. Eine Gruppe japanischer Touristen, alle in sanftblauen Moonboots, trödelte kichernd vor ihm her, zwang ihn, für einen Moment auf die schneematschige Straße zu wechseln, um sie zu überholen.
Er hätte ein Taxi nehmen sollen.
Aber er hatte gedacht, die frische Luft würde ihm guttun. Nun bereute er diesen Entschluss. Die Kälte kroch in seine Hosenbeine, nahm den Zehen jedes Gefühl und quälte seine Ohren mit tausend eisigen Nadelstichen.
Wer Assmuss nicht kannte, würde ihn für einen gemütlichen Mann halten, für einen Typen wie den Großvater aus der Fernsehwerbung, der Kindern Karamellbonbons andreht. Fast eine Glatze, nur wenig graue Haare, ein volles Gesicht mit einigen Falten um die Augen- und die Mundwinkel. Auf den zweiten Blick wurde man jedoch gewahr, dass er sich trotz seiner fast hundert Kilo schnell und geschmeidig bewegte. Zielstrebigkeit ging von ihm aus, eine ruppige Energie, die nur wenige Männer mit diesem Körperumfang auszeichnet.
Assmuss hatte es weit gebracht. Nicht ohne Grund war er Europachef von Peterson & Peterson . Er hatte sich einen Platz im Heiligtum des Konzerns erobert, dem Board of Directors, am Firmensitz in Atlanta. Nicht nur das Wall Street Journal und das Handelsblatt handelten ihn als den künftigen Chef von Peterson & Peterson .
Er war gebürtiger Rheinländer, also war er katholisch und hatte Humor, und er wusste ihn einzusetzen. Er verfügte über einen unerschöpflichen Fundus an Tünnes-und-Schäl-Witzen, die er abends in kleineren Runden seinen Angestellten erzählte. Damen begeisterte er manchmal mit gemäßigten Anzüglichkeiten, und für große Tischrunden hatte er neben einigen anspruchsvollen jüdischen Witzen auch längere Zitate von Jaspers, Schopenhauer und Hannah Arendt parat. Er war ein Mann, der Eindruck machte, egal auf welchem Parkett.
»Unermüdlich im Dienst an der Gesundheit: Dirk Assmuss widmet sein ganzes berufliches Dasein dem medizinischen Fortschritt«, hatte die Frankfurter Allgemeine in einem Porträt über ihn geschrieben. Sein Vater hatte gewollt, dass er Arzt wird wie er selbst. Heilkunst und Kunst – das waren die beiden großen Leidenschaften in seinem Elternhaus gewesen. Heilkunst, dafür stand der Vater – und die Mutter wollte, dass der Sohn ein Künstler wird. Schon als Zehnjähriger hatte Dirk Assmuss mehr Museumsbesuche hinter sich alsein normaler Mensch in seinem ganzen Leben. Er erinnerte sich an die nicht enden wollenden Aufenthalte im Picasso-Museum in Barcelona. Sein Vater pilgerte regelmäßig zu den Kranken- und Lazarettbildern, die Picasso als junger Mann gemalt hatte. Wie hingebungsvoll die Mutter am Bett ihres Kindes sitzt! Wie gut der Maler die Aufmerksamkeit des Arztes getroffen hat und das Fahle im Gesicht des Patienten auf einen Ernährungsmangel schließen lässt!
Assmuss enttäuschte seinen Vater. An zwei Zehnteln im Notendurchschnitt scheiterte die Zulassung zum Medizinstudium. Nie hatte er sich als größerer Versager gefühlt als an dem Tag, als er sein Abiturzeugnis dem Vater vorlegte. Er hatte im Flur der Praxis warten müssen. Der Vater kam aus dem vorderen Behandlungszimmer, nahm das Zeugnis, las es, gab es ihm zurück und ging wortlos zurück zu seinem Patienten.
Auch über die Berufswahl seines Sohnes verlor er nie ein Wort. Selbst später, als Assmuss bereits erfolgreich war und viel mehr als sein Vater verdiente (er erwähnte es scheinbar beiläufig zweimal, einmal bei einem Abendessen, als er seine Eltern besuchte, einmal als er sie nach Barcelona einlud und sie – ganz ohne Museumsbesuch – ins Los Caracoles führte, eines der bekanntesten Restaurants der Stadt, ein Lokal, das der Vater der Preise wegen niemals besucht hatte): Nie redeten sie über seinen Beruf. Die Enttäuschung, die er seinem alten Herrn bereitet hatte, hätte er gern aus der Welt geschafft, sie war, so dachte er manchmal, der eigentliche Stachel, der ihn in seinem jetzigen Beruf so unentwegt antrieb.
Aber er enttäuschte auch seine Mutter. Sie hatte ihr Leben dem Ziel gewidmet, aus dem einzigen Sohn einen Künstler zu machen. Ihr war das Künstlerische nicht gegeben. Sie wusste es, denn sie malte auch. Mit großer
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