Rebellen: Roman (German Edition)
Fräulein Wackenhut stand in der Tür. Sie trat noch einmal an Pauls Bett und strich ihm über den Kopf. »Schlaf gut, Paul. Leb dich gut ein bei uns.«
Paul nickte. Er war müde und konnte doch nicht schlafen. Noch drei Wochen und ich werde elf Jahre alt. Mama hat versprochen, mich dann zu besuchen. Ich hab ihr viele Sorgen gemacht. Ich mache immer allen Sorge. Ich bin zu oft nicht zur Schule gegangen.
Sechs Wochen lang war Paul im Rechenunterricht verschwunden. Manchmal, drei- oder viermal, lief er mittwochs sogar nach dem Schulgottesdienst durch die Stadt und ging erst nach Hause, wenn die Schule zu Ende war. So als sei nichts geschehen. Er übte drei Tage, bis er die Unterschrift der Mutter nachmachen konnte. Dann schrieb er sich selbst Entschuldigungen. Es flog auf, weil Lehrer Fuhr seiner Mutter zufällig in der Stadt begegnete. Es gab zwei Ohrfeigen vor der gesamten Klasse; Nasenbluten, das einfach nicht aufhören wollte. Die Mutter mit gesenktem Kopf in der Schule. Paul, Paul, ich muss doch arbeiten, und du machst mir immer nur Sorgen. Er verstand nicht, worum es im Rechnen ging. Du bist doch kein dummer Junge.
Doch, das war er. Ich bin dumm. Deshalb bin ich jetzt hier. Es ist die gerechte Strafe. Jetzt mache ich der Mama keine Sorgen mehr. Vielleicht kommt sie doch zum Geburtstag.
5. Alexander
Alexanders Mutter hasste das Waisenhaus.
Manchmal stand sie nach dem Abendessen vor dem großen Panoramafenster, das Glas mit dem Möselchen in der einen und die Lord Extra in der anderen Hand. »Seht euch das nur an«, rief sie dann, und langsam scharrte sich die Familie um sie, der Vater mit dem unvermeidlichen Cognacschwenker, rechts neben ihm Maximilian, der dann sofort nach Vaters Hand griff, die Mutter stand einen halben Meter davor und Alexander neben ihr. Sie starrten hinüber zum Waisenhaus, das nur durch Heimwiese und Haydnstraße von ihrem Haus getrennt war.
»So etwas gehört einfach nicht in unsere Gegend«, sagte der Vater dann, aber es klang, als sage er das nur, um die Mutter zu beruhigen. Trotzdem ärgerte sich Alexander, weil Maximilian es sofort nachquasselte, wie er alles nachquasselte, was der Vater sagte. Dabei hatte der Vater das große Fenster nachträglich einbauen lassen, so als brauche er den freien Blick auf den riesigen weißen Bau, den seine Frau so verabscheute.
Maximilian und Alexander mochten die Kinder da drüben auch nicht.
Von Maximilians Zimmer im ersten Stock sahen sie jeden Samstagvormittag einem Trupp Heimkinder dabei zu, wie sie Unkraut jäteten. Sie zählten meist zwölf oder dreizehnMädchen oder Jungs, beaufsichtigt von einer Erzieherin, die sie manchmal nicht von den Kindern und Jugendlichen unterscheiden konnten, so jung war sie. Gebückt zogen die Kinder das Unkraut am Rand der geteerten Straße heraus, die sich von der Küche bis zur Ausfahrt hinzog, dann zupften und jäteten sie am Zaun zur Gluck- und schließlich zur Haydnstraße. Die Kinder erinnerten Alexander an Strafgefangene in einem Film, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie, durch Ketten gefesselt, an ihren Füßen schwere Eisenkugeln nach sich gezogen hätten.
Trotzdem: Es ging etwas Faszinierendes von ihnen aus. Sie zogen Gras und Löwenzahnwurzeln mit sichtbarem Widerwillen aus der Erde und warfen sie mit einer so aufsässigen Langsamkeit in einen blechernen Abfalleimer, dass sich Alexander der Wirkung selbst aus der Ferne nicht entziehen konnte. Nie hätte er es gewagt, mit einer ähnlichen Geste eine Anweisung der Mutter zugleich zu befolgen und aufzubegehren. Zwei Wochen Stubenarrest wären das geworden, von der Häme des älteren Bruders ganz abgesehen.
Erst Jahrzehnte später, als er Paul schon fast vergessen hatte, interessierte er sich für diesen merkwürdigen Fremdkörper in seinem früheren Stadtteil. Am Bahnhof löste er eine Fahrkarte, um nach Bärental zu fahren, wo das Wochenendhaus der Eltern stand. Am Fahrkartenschalter entdeckte er eine Sammelbüchse. Unterstützen Sie die Waisen der Bundesbahn stand darauf. Neugierig geworden, fragte er den Bahnbeamten, was es damit auf sich habe, und der zog aus einer Schublade eine kleine Broschüre. Während der Fahrt las er, dass der Eisenbahn-Waisenhort als soziale Einrichtung 1902 gegründet worden war, um eine Heimstatt für die Kinder, Waisen oder Halbwaisen der beim Schienenlegen, Sprengen oder Rangieren umgekommenen Reichsbahner zu schaffen.
Damals, als er Paul zum ersten Mal sah, wohnten mehr als dreihundert Jungs und Mädchen in
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