Rebellen: Roman (German Edition)
unbeteiligt alles aufnimmt, was sich in ihrem Blickwinkel bewegt.
Helmholtz war es gewohnt, Informationen zuverlässig abzurufen, entweder aus dem eigenen Kopf oder aus dem von Frau Ballhaus, die sein Büro seit vielen Jahren führte. Er verlangte, dass die Information zur Stelle war, wenn er sie brauchte. Das verlangte er, obwohl ihm sein eigener Gedächtnisapparat seit zwei, drei Jahren immer öfter Streiche spielte und er zu seinem Ärger Dinge vergaß, vor allem Namen. Sogar wenn es um einen wichtigen Auftrag ging und er sich von einem Mann verabschiedete, der ihm bereits im Juni die Jahresbilanz rettete und mit dem er zwei Stunden lang über technische Details, Lieferzeiten, Zahlungsziele und Rabatte gefeilscht hatte, fiel ihm zum Abschied, wenn man sich die Hände reichte und noch einmal, einer Beschwörungsformel gleich, die nun begründete langfristige, verlässliche Partnerschaft betonte, der Name seines Gegenübers nicht mehr ein. Das Gedächtnis versagte auf empörende Weise, statt des Namens fühlte er auf beunruhigende Weise ein saugendes Vakuum im Hirn.
Als er Toni davon erzählte, lachte sie ihn aus. Das seien normale Alterserscheinungen. Er müsse sich keine Sorgen machen. Allerdings: Besser würde es nicht werden. Seitdem notierte er sich die Namen seiner Gesprächspartner in dem gebundenen schwarzen Notizbuch, das er aufgeschlagen vor sich liegen ließ und in das er am Ende des Gesprächs unauffällig einen Blick warf, um die aufgeschriebenen Namen zumindest jetzt noch einmal ins Kurzzeitgedächtnis zu rufen.
Helmholtz fror, als er die Eisenbahnstraße hinaufeilte, obwohl es ein warmer Frühlingstag war. Die Bäume um den Brunnen, den die Stadt zu Ehren des Franziskanermönchs Berthold Schwarz erbaut hatte, trugen bereits frische Blätter in dem unschuldigen Sanftgrün des späten April. Doch Wolken stauten sich über dem Schlossberg, und ein plötzlicher Regen konnte alles zunichtemachen. Nichts war sicher in dieser frühen Jahreszeit.
Helmholtz eilte weiter, den Mantelkragen mit der Rechten am Hals zusammendrückend. Er wollte nicht an Paul denken. Er wollte Toni sehen.
Ja, er wollte seine Frau sehen. Sehen, dass sie lebte, sehen, dass alles an seinem Platz war. Paul war seit Jahren tot. Doch nun schien es ihm, als greife er erneut nach ihm.
Am Ende der Kaiser-Joseph-Straße befand sich ihre Praxis: Dr. Antonia Helmholtz, Diplom-Psychologin, Jugend- und Familientherapie. Er stürmte die Treppe hinauf und riss die Tür zu ihrer Praxis auf.
Sonja, die hinter der Anmeldetheke saß, schreckte auf, lächelte, als sie ihn erkannte, legte dann einen Finger auf die Lippen. »Ihre Frau hat eine Patientin«, flüsterte sie und deutete auf den Therapieraum. Sie streckte alle zehn Finger in die Höhe.
Noch zehn Minuten also.
Immer noch schwer atmend, ging Alexander Helmholtz ins leere Wartezimmer und setzte sich auf einen Stuhl. Stand auf und zog seinen Mantel aus. Setzte sich wieder, stand erneut auf, trat zum Fenster und schob, einem inneren Impuls folgend, die Gardine zur Seite.
Erinnerung ist ein anderes Kaliber als das Gedächtnis. Erinnerung wählt aus. Erinnerung bewahrt jene Dinge auf, dieein unkontrollierbares Unterbewusstsein für wert hält, dass sie aufbewahrt werden, oder die so schrecklich sind, dass sie unvergesslich werden. Sie hält sie frisch wie am ersten Tag. Ihr Maßstab sind weder Uhr noch Frau Ballhaus’ Terminkalender. Erinnerung lässt sich nicht kontrollieren, bestellen, kommandieren, sie kommt und geht, wie es ihr passt, oft ohne Vorwarnung und ohne Ankündigung, und wenn sie erscheint, ist sie wahr, sosehr man zuvor auch versucht haben mag, sie zu verbiegen, zu verleugnen oder gar ganz zu löschen.
3. Paul
Paul stemmte sich gegen die Tür. Mit der Schulter und beiden Händen drückte er dagegen. Im Flur nahm Moppel Anlauf. Trotz seines enormen Gewichts beschleunigte er auf den wenigen Metern, die ihm zur Verfügung standen, erstaunlich schnell und krachte mit der rechten Schulter gegen die Tür zum Klo, die sich unter seinem Ansturm um einige Zentimeter öffnete. Paul hielt dagegen. Auf keinen Fall durfte Moppel einen Fuß in den Spalt setzen. Paul stützte sich mit beiden Beine an dem steinernen Sockel der ersten Kabine ab und presste mit Brust, Armen und Schulter gegen die Tür, die sich Millimeter um Millimeter öffnete. Er schaffte es nicht, die Tür wieder zurück ins Schloss zu drücken, aber noch war der Spalt zu klein für Moppels Schuh. Die Muskeln von Pauls
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