Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rechnung offen

Rechnung offen

Titel: Rechnung offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
Vom Netzwerk:
sie jeden Abend fünf Minuten so liegen dürfen, Hände auf der Decke, ehe sie ihren Pyjama anziehen musste.
    Sie erzählte oft solche Sachen, aus ihrer Kindheit. Hastig, als hätte sie Angst, er würde das Licht ausmachen, sich umdrehen, einschlafen. An Verhaltensregeln bei Entführungen musste er denken, er hatte eine Doku darüber geschnitten. Erzählen Sie dem Täter von sich, versuchen Sie ihn zu zwingen, Sie als Mensch zu sehen. Versuchen Sie, Gemeinsamkeiten zu finden. »Wie hießen deine Tiere?« – »Wir hatten keine.« – »Stofftiere, meine ich, die musst du gehabt haben.«
    Nicolai legte seine Hand mittig aufs Bett, griff fest in den Stoff, tastete, prüfte, bis er sicher war, dass er nicht nur Decke, sondern auch das Laken zwischen den Fingern hatte, und zog. Hoch, bis er den Arm ausgestreckt vor sich hielt, es sah aus wie ein Zelt, ein Zelt hatte sie bestimmt auch gehabt, und irgendjemand hatte Märchen darin vorgelesen. Mit einem Ruck riss er Decke und Laken zur Seite und ließ sie auf den Boden fallen.
    Anfangs hatte es ihm nichts ausgemacht, nicht zu schlafen. Still zu liegen unter dem dunklen Fensterkreuz, Grillen zirpten, unablässig. Unsinn, hatte er gedacht, in Berlin gibt es keine Grillen. Aus Mexiko, aus Mexiko. Braun stellte er sie sich vor, wie kleine Zigarren, verborgen hinter dunkelgrünen Blättern. Von Zeit zu Zeit betrachtete er Camilles Körper. Die Dehnstreifen auf ihrer Hüfte, das weiße Muttermal unterhalb des Nabels, die ihre Position wechselnden blauen Flecken auf ihren Schienbeinen. Ein schwarzes Haar wuchs auf dem Rand der linken Brustwarze. Schweiß sammelte sich zwischen ihren Körpern, er rückte von ihr ab, ließ ihn auskühlen, damit sie nicht aufwachte, mir ist heiß, sagte und fragte, was los sei.
    Und nichts anderes war es gewesen, als nicht zu schlafen.
    Die Angst war später gekommen. Die Angst, aufzuwachen von der Wärme, auf der Innenseite seiner Beine. Die Wärme breitete sich aus, Totale vom Bett, sie lagen beide in Embryonalhaltung, Camilles Rücken an seinem Bauch. Schnitt. Harte Blende, Nahaufnahme der durchsichtig gelben Lache auf seinem Oberschenkel, sie dehnte sich aus, bis sie zungenförmig die Wölbung hinablief. Hier legte er Musik drunter, Wagners Walkürenritt seltsamerweise. Matchcut, Großaufnahme von Camilles Oberschenkel, feine Härchen, dunkle Punkte, die Poren, über einigen standen winzige Schweißkuppeln, die von der gelben Zunge mitgerissen wurden. Sie brandete gegen ihre Haut, wechselte die Richtung, ein wenig sickerte zwischen ihren Körpern durch ins Laken, bildete einen gelben Streifen. Der Rest lief die Beine entlang, die Kamera schwenkte mit, die Vorderseite seines Schenkels, die Rückseite ihres, schoss hinab in Richtung Knie. Weiterschlafen würde sie, ahnungslos, der Urin warm, sechsunddreißig Komma acht Grad, langsam abkühlend. Ihre Unterschenkel lagen weit auseinander, die Flüssigkeit würde an seiner Kniescheibe, ihrer Kniekehle hinabtropfen, zu einem gelben Teich auf dem Laken, in dem der Streifen mündete.
    ***
    »Tschüs«, rief jemand aus dem Flur. Der Bildschirm vor ihr war dunkel, sie hatte den Computer nicht hochgefahren, Theresa saß auf der Stuhlkante und antwortete nicht. Betrachtete ihre Unterarme auf der Tischplatte, die sonnengebleichten Härchen aufgerichtet durch den Luftzug vom gekippten Fenster zum Türspalt. Zwischen Handgelenk und Resopaloberfläche, unter ihrem Uhrenarmband, ihrem Ehering sammelte sich Schweiß. Das gleichmäßige Brummen eines Rasenmähers drang herein, Schwalbenrufe. Wenigstens keine Fliegen, dachte sie. Die Pigmentflecken, sie besiedelten ihre Haut immer dichter, waren in der Sonnenbräune aufgegangen.
    Eine Nachbarin hatte angerufen. »Deine Mutter benimmt sich seltsam«, hatte sie gesagt. »Läuft nachts auf der Straße herum, im Bademantel, die Straße vor eurem Haus, hoch und runter, als würde sie auf jemand warten.«
    Sie musste ihre Nägel machen, unregelmäßige helle Zacken im dior new rouge, der Lack an den Rändern abgeplatzt. Aber gerade konnte sie nicht einmal den Arm heben. Nach ihren Mails sehen. Oder nach Hause fahren. Wo jeder Lichtreflex auf poliertem, finnischem Holz, auf gebürsteten Metallen, auf Graphit, Silber, Schellack, Lavastein, wo jeder Markenschriftzug ich bin unglücklich und du bist schuld sagte. Und Ebba. Um vier. Theresa betrachtete die geweiteten Adern auf ihren Handrücken, wenn sie sich wieder unter die Haut zurückgezogen hatten, würde sie den Arm

Weitere Kostenlose Bücher