Rechnung offen
banden sie Haut und Haare an ihre Gürtel. Damit die Feinde wegliefen, sie nicht kämpfen mussten.
Er könnte einen Nagel nehmen. Könnte sie festmachen, die Haut, sie sah nicht so dick aus, als dass er nicht einen Nagel durchschlagen könnte, sie festmachen an der Wohnzimmertür. Damit sie Angst bekämen, sahen, dass Lucas einen von ihnen erlegt hatte. Zumindest würden sie das denken.
***
Ebba sah die weit geöffneten Lippen vor sich, die Zunge, rosa und dick geschwollen und feucht, hing zu einer Seite, im Mundwinkel. Sie sah die Schallwellen, gebogene parallele Linien, wie in der Graphik im Biobuch, die sich an der Zunge vorbeidrängten, ausdehnten, größer wurden, länger, je weiter sie sich von dem Mund entfernten. Sie füllten die Küche, zwei Stockwerke unter ihr, vermischten sich mit der warmen Ofenluft. Drangen durch die Mauern, durch Putz und Backsteine, durch das Holz der Dielen, durch die Ritzen, riesige Wellenlinien, hinauf in ihre Wohnung. Sie füllten das Zimmer, durchsetzten die Luft, so dicht, dass alles ein Nebel wäre, könnte man sie sehen. Schmiegten sich an ihren Körper, drückten sich in ihr Ohr. Hohe Töne waren es am Morgen gewesen, hoch und abgehackt und nicht sehr laut, ein Kinderquengeln. Jetzt war es tiefer, ein Klagen, ja, und gleichzeitig sexuell, brünftig, wie ein geiles Tier in Schmerzen. Ebba nahm ein Kissen, legte es auf ihr Ohr, schüttelte sich vor Ekel, zog die Decke hoch, bis sie ihren Kopf bedeckte, dachte an den Speichel, der auf der hängenden Zunge trocknete. Wickelte die Decke fester um sich, ein Schutzschild, dachte sie. Die Wellen durchdrangen es mühelos, es roch nach Pizza, nach verbrannter Pizza. Ebba presste die Handflächen auf ihre Ohren, Finger in die Muscheln, die Wellen drängten sich an ihnen vorbei. Sie gab auf, warf die Decke von sich, das Kissen auf den Boden und ging ins Bad. Sie drehte den Hahn auf, hielt Toilettenpapier unter den schmalen Strahl, fühlte, wie es sich vollsog. Riss das Papier in der Mitte durch, drückte es zusammen, zwei kleine Klumpen, drückte Wasser aus ihnen heraus, es tropfte auf ihre Socken. Der erste Klumpen war zu groß, als sie ihn in die Ohrmuschel pressen wollte, verschloss den Gehörgang nicht richtig, dämpfte das Klagen kaum, sperrte es nicht aus, hielt es nicht auf, die Wellenlinien drangen weiter in sie ein. Ebba zog den Klumpen wieder hervor, Gelbliches klebte daran, halbierte ihn. Jetzt ließ er sich hineinschieben, nicht zu tief, dachte sie, prüfte, ob sie ihn wieder herausbekam, ja, sie steckte ihn wieder hinein. Ein Wassertropfen lief in ihren Gehörgang, kitzelte kalt und seltsam übergroß, lief tiefer in ihr Ohr, die langgezogenen Töne waren leiser, aber noch da.
Freitag, 5. Dezember
Sie haben geklopft, hast es gleich beim ersten Mal gehört, dachtest, es wäre nebenan. Ob alles o.k. ist, haben sie gerufen. »Ja«, hast du geschrien, wütend plötzlich, hattest Bitte nicht stören draußen an die Klinke gehängt. Schwarz vor Augen wurde dir, als du aufgestanden bist, hast geduscht, den Rest Shampoo aus dem kleinen Fläschchen gepresst. Hast einen der Umschläge geöffnet, bist mit nassen Haaren runter, zur Rezeption, hast das Geld für eine weitere Woche auf den Tresen gelegt.
»Versteckst dich, was«, hat er gefragt, schmal und mickrig in seinem blau-weiß gestreiften Shirt, die Haare blondgrau und fettig, von einem Seitenscheitel geteilt. Seine Augen besehen, von oben nach unten und wieder nach oben, deine Kleidung, als wolle er sie sich für die Personenbeschreibung einprägen.
»Ich sag Bescheid, wegen dem Zimmerputzen, wenn es mir passt«, drehst dich um, gehst auf die sich öffnende Schiebetür zu, gehst hinaus, willst nicht unentschlossen stehen bleiben, sein Blick im Rücken, gehst also nach rechts, die Straße entlang, Mehrfamilienhäuser, eine Bäckerei. Schwindelig wird dir, viel flüssiger Speichel in deinem Mund, gehst weiter bis zu einem Supermarkt. Zwei Pakete Kekse, Würstchen, Ketchup, sogar Shampoo, Duschgel, Knäckebrot, was hält sich noch ohne Kühlschrank, Gurken im Glas, eine Tüte Chips. Er stiert die Tüte an, als du wieder am Tresen vorbeigehst, fragt aber nicht, was drin ist.
***
Nicolai stand noch immer vor der Tür, betrachtete das Klingelbrett, unentschlossen, ob er auf die andere Straßenseite gehen und dort warten oder sich auf den flachen Zaun setzen sollte, den jemand um das Erdviereck der Linde direkt vor ihrem Haus gebaut hatte. Er hatte geklingelt, einmal, zweimal,
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