Rechnung offen
Sie atmeten tief ein, zogen die Stuckaugenbrauen nach oben, bliesen sich auf, Schweißtropfen vor Anstrengung auf den Dächern. Drückten so lange gegen das Haus in ihrer Mitte, sein Haus, schmal und grau und mit einem Weingesicht, bis es verschwand, in zwei kleinen grauen Wölkchen verpuffte.
»Ich hab kein Ticket«, sagte er, »lass uns zum Spielie.«
Ümit blieb stehen, »ich will zocken.«
»Wir können zum Spielie und später noch mal zu Karstadt, die hauen bald ab.«
»Sonst fährst du auch immer schwarz.«
Ich hab ’ne Xbox, könnte er sagen. – Quatsch, würde Ümit antworten. – Doch. – Wo denn? – Zu Hause. – Zeig. – Meine Mutter erlaubt mir das, könnte er sagen, hatte sich oft vorgestellt, wie Ümit reagieren würde, wenn er den Außenposten sah. Ümit durfte keine Höhlen im Wohnzimmer bauen. Bettdecke und Kopfkissen lagen auf dem Sofa, aus Spaß könnte er sagen, hab ich dort geschlafen. Dass sie Spätschicht hatte. Extraschichten, falls Ümit in die Küche ging, um sich was zu trinken zu holen, zu den Geschirrstapeln, schief waren sie, die unteren Teller miteinander verklebt. Den Gläsertürmen, trübe Wasserreste in den einzelnen Stockwerken. Ümit würde denken, sie hätte nicht aufgeräumt, sie Schlampe nennen. Du kannst nicht mit zu mir, müsste er sagen, meine Mutter hat Spätschicht. – Mir doch egal. – Sie schläft. – Die kann nachts schlafen, würde Ümit sagen. – Dann arbeitet sie. – Der Backshop hat nachts gar nicht auf, würde Ümit sagen, du hast gar keine Xbox. – Nachts machen sie ihn sauber. – Du lügst, du hast gar keine Xbox.
Er könnte sagen, die Waschmaschine sei kaputt, falls Ümit aufs Klo musste, und die Wäsche in der Dusche sah. Ümit war ganz nah gekommen, letzte Woche in der Mathestunde, hatte hörbar Luft eingesogen, neben seinem Ohr, seinem Hals. »Hau ab«, Lucas hatte nach ihm gestoßen. »Du stinkst«, hatte Ümit geantwortet.
Er könnte Ümit sagen, er solle warten, vor ihm hochlaufen und die Wäsche aus der Dusche ins Schlafzimmer bringen.
»Ey«, Ümit wedelte mit der Hand vor Lucas’ Gesicht, ein Bus hielt neben ihnen, die Türen öffneten sich. Er konnte Ümits Finger riechen, fühlte den Luftzug an der Nase.
»Spinnst du«, Lucas zog den Kopf weg, schlug nach der Hand.
»Hör auf, vor dich hin zu glotzen. Zum Alex?«
»Nein.«
»Stell dich nicht so an«, sagte Ümit und drehte sich um und ging ein paar Schritte, »mir doch egal, ob du mitkommst.«
Einer der aussteigenden Fahrgäste stieß mit ihm zusammen, »Arschloch«, sagte der Typ.
Ümit blieb wieder stehen. »Jetzt komm.«
Meine Mutter ist nicht da. – Ruf sie an. – Geht nicht. – Ruf sie bei der Arbeit an, wenn ihr Handy nicht funktioniert. – Sie ist nicht bei der Arbeit. Sie ist nicht da. – Seit wann? – Schon länger. – Glaubst du, sie ist tot? – Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Lucas schüttelte den Kopf.
»Was ist?« Ümit berührte seinen Arm.
Sie könnte tot sein.
»Warum schüttelst du den Kopf?«
Ich frag meine Mutter, ob du bei uns wohnen kannst, würde Ümit sagen. Die Xbox nehmen wir mit. Das wird voll cool. Du schläfst in meinem Zimmer, und nachts schalten wir den Ton aus, dann merken sie es nicht.
»Machst du nicht«, Lucas schrie, stand vor Karstadt und schrie, »machst du nicht.«
»Was?«
»Es deiner Mutter sagen.«
Lucas drehte sich um und rannte die Karlsstraße entlang, auf den Hügel zu, die blaue Linie wickelte sich auf, wie das Staubsaugerkabel, wenn er den Steckerknopf drückte.
»Warte«, hörte er Ümit rufen, »jetzt halt an.«
Lucas beschleunigte, rasend schnell und ohne sich zu verheddern wickelte sich die blaue Linie auf. Wenn er so weiterlief, würde er nie den Hügel raufkommen ohne anzuhalten, Spucke sammelte sich in seinem Mund, er bekam Seitenstechen. Nicht umdrehen, Ümit war schnell, rief erneut »halt an«, nicht umdrehen, er wird aufgeben, irgendwo am Hügel wird er aufgeben und zum Alex fahren.
Lucas berührte die Klinke mit der Hand, hockte sich hin, auf allen vieren in den Hausflur, Spucke lief aus seinem Mund, tropfte auf den Boden, runde glänzende Flecken. Sein Atem war laut, bis zum U-Bahnhof hatte er Ümit gehört, hinter sich, nicht umdrehen hatte er gedacht, war abgebogen, den Außenposten vor Augen. Und jetzt kniete er im Hausflur und wollte nicht rein.
Er schloss die Tür auf, die Lampe im Wohnzimmer brannte, ihre Jacke hing nicht am Haken im Flur, ihre Schuhe standen nicht darunter auf den
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