Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
außenjuristisch, durch Vergleiche mit und Anleihen bei der literarischen Interpretation, so anreichern, dass neue Einsichten und Lösungen möglich werden?
Recht und Literatur treffen sich zum anderen im Interesse an den Geschichten, die im Recht erzählt werden. Die Tatsachen, auf die das Recht angewandt wird, stehen selten so fest, dass sie als objektiver Befund nur noch unter die einschlägige Rechtsnorm oder das einschlägige Präjudiz zu subsumieren wären. Sie werden erzählt, werden Geschichten, und wer erzählt, hat eine Stimme: die Stimme einer Frau oder eines Mannes, einer Weißen oder eines Farbigen, eines Mitglieds der Mehrheits- oder eines Mitglieds einer Minderheitsgesellschaft. Die verschiedenen Stimmen erzählen verschiedene Geschichten, sie achten auf unterschiedliche Details und setzen unterschiedliche Pointen. Kann die Verschiedenheit der Stimmen und Geschichten, die in der Literatur begegnen, für die Verschiedenheit der Stimmen und Geschichten, die dem Recht begegnen, sensibilisieren? Was kann die Literaturwissenschaft die Rechtswissenschaft über verschiedene Erzählweisen, -haltungen, -logiken lehren?
Recht und Literatur treffen sich schließlich im Interesse an den Fragen der Gerechtigkeit und des Verhältnisses zwischen Rechtund Unrecht, Recht und Moral, Einzelnem und Gemeinschaft. Es sind alte Fragen, auf die die Philosophie seit alters Antworten gibt – unter dem Anspruch auf methodische Korrektheit, systematische Stimmigkeit und Objektivität. Die Skepsis der Critical Legal Studies gegenüber diesem Anspruch lenkt das Interesse auf die unmethodischen, unsystematischen und subjektiven Antworten, die sich in der Literatur finden. Außerdem sind diese Antworten Studenten und Studentinnen gelegentlich zugänglicher als die philosophischen; Veranstaltungen zu Recht und Literatur führen auch die Studenten und Studentinnen zu den Grundfragen und Grundlagen des Rechts, die rechts- und staatsphilosophische Veranstaltungen scheuen.
Überdies können Recht und Literatur sich in der Ausbildung amerikanischer Juraprofessoren und -professorinnen treffen. Es geschieht nicht selten, dass das Jurastudium auf eine Collegeausbildung mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt oder sogar auf eine literaturwissenschaftliche Promotion folgt. Dann liegt es in der anschließenden Tätigkeit an der Law School nahe, Recht und Literatur in Forschung und Lehre thematisch zu verbinden.
Das amerikanische Law and Literature Movement lebt in einer Fülle von Monographien und Anthologien, Zeitschriften und Tagungen und hat in den Curricula der Law Schools einen festen Platz. Es gibt einen Kanon von Texten, die in den entsprechenden Lehrveranstaltungen besprochen werden; dazu gehören, in Richard Weisbergs vorliegendem Buch behandelt, Der Großinquisitor von Dostojewskij, Der Fremde von Camus und Billy Budd von Melville, ferner Shakespeares Der Kaufmann von Venedig , Kafkas Vor dem Gesetz und Glaspells A Jury of Her Peers . Der Schatz der Literatur, die den Kanon ergänzt, ist unerschöpflich und reicht von Kleists Michael Kohlhaas über Brechts Der kaukasische Kreidekreis bis zu Dürrenmatts Die Panne , von Dickens’ Bleak House über Porters Noon Wine bis zu Malamuds Ein Mann wie Hiob .
II.
Das Interesse an der Interpretation von Normtexten, als seien es literarische Texte, setzt bei dem offenkundigen Sachverhalt an, dass es beidemal um Texte geht, die der Interpretation bedürfen. DieArgumente für und gegen die mit dem Begriff des Formalismus verbundene Vorstellung, die Bedeutung eines Texts liege in dessen Worten, und für und gegen die mit dem Begriff des Intentionalismus verbundene Vorstellung, sie liege in den Motiven und Absichten des Verfassers, entsprechen einander, ob sie von Rechts- oder Literaturwissenschaftlern vorgebracht werden. [3] Die rechts- und die literaturwissenschaftliche Kritik an dem so genannten Objektivismus, der sowohl Formalismus als auch Intentionalismus nach richtigen Interpretationen suchen lässt, bedient sich des gleichen Arsenals freudianischer, marxistischer, feministischer, strukturalistischer, poststrukturalistischer, konstruktivistischer und dekonstruktivistischer Argumente.
Des Arsenals bedarf es zwar nicht, um die Problematik des formalistischen und des intentionalistischen Objektivismus aufzuzeigen. Dass die Bedeutung eines Textes nicht in dessen Worten noch in der Absicht seines Verfassers liegt und dort einfach interpretatorisch herausgeholt werden kann, folgt schon
Weitere Kostenlose Bücher