Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
suchen sie in den Fallstricken rechtlicher Verfahren und juristischer Sprach- und Verhaltensrituale zu fangen und zu erledigen. Den Begriff des Ressentiments schärft Weisberg an Nietzsche und Scheler. Mit ihnen kennzeichnet er ihn als eine intellektuelle Malaise oder auch Malaise des Intellektuellen, der sich für die Kränkung, als Mensch nicht zu sein oder nicht zu haben, was andere sind oder haben und er auch gerne wäre oder hätte, nicht persönlich und spontan, sondern institutionell und formal rächt; mit ihnen unterscheidet er die neidische, gekränkte, verbitterte Moralität des Ressentiments von einem freien, offenen Einsatz für Gerechtigkeit.
Weisberg findet den entsprechenden Typus in den Juristen Dostojewskijs, Flauberts und Camus’. Aber auch ohne juristische Ausbildung und juristischen Beruf können Charakter und Stellung bzw. der Autor des Romans einen Menschen dem Typus zuschlagen. Indem Weisberg rechtsgeschichtlich nachweist, dass das maßgebliche Gesetz von Kapitän Vere ein anderes als das gezeigte Verhalten verlangte, und indem er literaturgeschichtlich belegt, dass Melville mit dem maßgeblichen Gesetz bestens vertraut war, eröffnet sich eine neue Dimension der Interpretation der Erzählung. Kapitän Vere gehorcht dem Gesetz nicht, sondern manipuliert es, er ist nicht Knecht seiner Pflicht, sondern Herr über das Verfahren und über Leben und Tod, er ist nicht der, der auf die Rechts- und tatsächliche Lage nur reagiert, sondern er agiert. Vielleicht macht er nicht nur den anderen etwas vor, sondern auch sich selbst. Jedenfalls stellt sich die Frage, warum er es tut, und Weisberg findet die Erklärung in seinem Ressentiment gegen alles, wofür Billy Budd und Lord Nelson, der strahlende, charismatische, erfolgreiche Altersgenosse, stehen.
Aber Kapitän Vere und auch der Typus, dem er zugehört, ist mit dem Aufweis des Ressentiments nicht abgetan. Gewiss, der Juristdarf das Recht nicht manipulieren. Aber Institutionen und Formen, Verfahren, Sprach- und Verhaltensrituale sind das Geschäft des Juristen, und Spontaneität und der freie und direkte Einsatz der Persönlichkeit sind weder seine Aufgabe noch seine Sache. Gewiss ist auch, dass das Recht dem Betroffenen oft fremd ist und er sich darin verstrickt fühlt. Der Typus des Juristen, den Weisberg in der Literatur aufspürt, ist nicht ein fataler, sondern der normale Typus, und noch der ideale Typus trägt viele seiner Züge.
Weisberg weitet das Dilemma des Juristen zum Dilemma des Intellektuellen und zum Dilemma der Autoren aus, die ihre spontanen, dem Leben form- und wortlos zugewandten Protagonisten sprachgewaltigen und formsicheren Juristen gegenüberstellen. Sie tun es im Medium des Romans, im Medium der Literatur – sprachgewaltig und formsicher.
V.
Mehr als in der Forschung liegt die Zukunft der Beschäftigung mit Recht und Literatur in der Lehre. Denn so gewiss Literatur rechts-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Quelle ist – die Literatur, der das Interesse an Recht und Literatur gilt, ist als Quelle nicht die erste Wahl. Geschichtliche Quelle erster Wahl ist die Literatur zweiten oder dritten Rangs, die den Ort und die Zeit, in denen sie entsteht,getreulich widerspiegelt. Die Literatur ersten Rangs verleugnet den Ort und die Zeit, in denen sie entsteht, zwar nicht, sie bleibt ihnen aber nicht verhaftet, sondern transzendiert sie. Deshalb erreicht sie die fernen und die späten Leser und Leserinnen, ist Literatur nicht eines Orts und einer Zeit, sondern Weltliteratur. Gerade dieser Literatur gilt das Interesse an Recht und Literatur.
Ähnlich verhält es sich in Hinsicht auf die Philosophie. So gewiss Literatur rechts- und moralphilosophische Gedanken enthält, Gedanken der Vergangenheit und Gedanken für die Gegenwart – die vertiefte Beschäftigung mit den Gedanken hält sich an die Philosophie selbst. Literatur darf Gedanken zu Ende denken, aber sie muss es nicht; sie darf mit dem Problem, dem Konflikt, dem Dilemma enden. Philosophie handelt zwar von Problemen, Konflikten und Dilemmata, endet mit ihnen aber nicht, sondern gibt ihnen einen systematischen Ort in einem größeren Kontext.
Die Leser und Leserinnen greifen nach den Büchern, denen das Interesse an Recht und Literatur gilt, denn auch nicht, um historische Quellen oder um systematisch Philosophie zu studieren. Soweit die Literatur sie nicht einfach fesselt, verzaubert, entrückt, ergreift, erhebt, sondern unter historischem oder philosophischem Aspekt
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