Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
daraus, dass Worte interpretationsoffen sind und auch die Absicht aus Worten erschlossen werden muss, die interpretationsoffen sind. Das Arsenal dient zur Erklärung dafür, woher die scheinbare Evidenz des Objektivismus kommt und wie nach seiner Erledigung Interpretationen Plausibilität gewinnen und verlieren. Dass es dabei auf die Sprachsituation, -gemeinschaft und -konventionen ankommt, ist grundsätzlich anerkannt. Ob sich ebendeshalb die juristische und die literarische Interpretation fundamental unterscheiden, ist streitig. Die neue, überraschende, eigenwillige Interpretation eines Gedichts regt an oder befremdet, aber bringt, anders als die neue, überraschende, eigenwillige Interpretation des Strafgesetzes, niemanden ins Gefängnis. Ist die Interpretation des Strafgesetzes das eine, und sind Gericht und Gefängnis das andere, und lassen sich beide säuberlich auseinanderhalten? Oder sind beim Recht Wissenschaft und Praxis derart verschränkt, dass Interpretation eine besondere Verbindlichkeit erhält? Haben daher Regeln der Interpretation im Recht eine andere Bedeutung als in der Literatur?
Das Interesse von Recht und Literatur an den Geschichten, die im Recht erzählt werden, hat seinen klassischen Text in Glaspells1917 erschienener Erzählung A Jury of Her Peers . Glaspell handelt von einem Tod und seiner Aufklärung. Auf einer abgelegenen, ärmlichen Farm wird ein Mann tot in seinem Bett gefunden, im Schlaf mit einem Strick erdrosselt. Seine Frau sitzt in der Küche, äußert sich zum Fund nicht und wird in Haft genommen. Später suchen Staatsanwalt und Sheriff die Farm noch mal auf, um Beweise für die Tat der Frau und Anzeichen für das Motiv zu finden, aus dem die Frau sie begangen hat und ohne das sie ihr schwerlich nachgewiesen werden kann. Sie lassen sich dabei von dem Nachbarn, der den Fund gemacht hat, von dessen Frau und der Frau des Sheriffs begleiten; die Frauen sollen für die Inhaftierte Kleider zusammensuchen.
Während die Männer Haus und Scheuer durchsuchen, sitzen die Frauen in der Küche. Aus dem schlechten Zustand der Küche, aus einer sorgsam begonnenen, dann achtlos weitergeführten Handarbeit, aus einem aufgebrochenen Vogelkäfig und schließlich aus einem in ein Taschentuch gewickelten, erdrosselten Singvogel erschließen sie, was geschah. Der Mann, hartherzig und lieblos, hat die Lebenslust und Lebenskraft der Frau wieder und wieder gebrochen und ihr schließlich nicht einmal den Singvogel gelassen, ihre einzige Freude. Dagegen und gegen die Unterdrückung vieler Jahre aufbegehrend hat die Frau den Mann getötet. Ohne viele Worte verständigen sich die Frauen über das, was geschehen und was zu tun ist. Sie verbergen den toten Singvogel vor den Männern. Sie, die Jury der Peers, sprechen die Frau frei und sorgen dafür, dass die Jury des Gerichts das Motiv nicht sehen und sie nicht wegen Mords verurteilen kann. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Glaspell geschrieben und der Fall, den sie aufgreift, sich zugetragen hat, war die Jury des Gerichts nur von Männern besetzt. Glaspell handelt von verschiedenen Perspektiven, Stimmen und Geschichten. Die Männer sehen nicht, was die Frauen sehen, sie machen sich vielmehr lustig über das, was die Frauen in der Küche wohl sehen und finden mögen. Die Männer sind ihrer Sache gewiss und reden auch so, laut, sicher, anmaßend, die Frauen fühlen sich mehr und mehr in die andere Frau und auch in einander ein und verständigen sich fragend, forschend, behutsam. Für die Männer fügt sich, was sie sehen, zu der Geschichte einer Ehe, in der der Mann hart arbeitet, nicht trinkt, niemandem etwas schuldig bleibt und die Frau die Küche verkommen lässt; der erdrosselte Singvogel würde ihnen dieTat der Frau als Empörung gegen den Mann, der den Firlefanz satt hat und Ordnung schafft, erklären. Für die Frauen handelt es sich um eine Geschichte der Missachtung und Unterdrückung; der erdrosselte Singvogel zeigt an, wie brutal die Frau behandelt wurde, und erklärt ihre Tat als Reaktion darauf, als Aufbegehren dagegen.
A Jury of Her Peers regt an nachzuspüren, wie die verschiedenen Perspektiven, Stimmen und Geschichten Gegenstand des Rechts werden und wie sie das Recht formen – und wie sie es werden bzw. formen sollen. Die Stimmen der Frauen zu hören hätte damals, als die Geschichte geschrieben wurde, bedeutet, das Recht statt auf eine den Männern nicht erklärliche Geschichte auf eine ihnen erklärliche anzuwenden und statt zum Freispruch zur
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