Red Rabbit: Roman
folgte, ganz im Sinne der politischen Theorien Lenins – die nun schon sechzig Jahre alt waren! Als hätte sich die Welt seitdem nicht verändert! Juri Wladimirowitsch wütete im Stillen. Er gab Unmengen Geld aus, um herauszufinden, was in der Welt passierte, ließ die gesammelten Informationen von hoch qualifizierten Experten analysieren, legte den alten Männern vorzüglich aufbereitete Berichte vor – doch die wollten einfach nicht hören!
Und zu allem Überfluss kam jetzt noch ein weiteres Problem hinzu.
Damit konnte der Stein ins Rollen gebracht werden, fürchtete Andropow und nahm einen tiefen Schluck Starka aus seinem Glas. Es bedurfte nur einer einzigen Person, wenn es denn die richtige wäre. Der würde zugehört und Aufmerksamkeit geschenkt werden. Und es gab durchaus Leute mit dieser zwingenden Wirkung auf andere.
Vor denen musste man sich hüten …
Karol, Karol, warum machst du uns diese Scherereien?
Scherereien würde es in der Tat geben, wenn er seine Drohung wahr machte. Sein Brief an Warschau war nicht nur für die dortigen Lakaien bestimmt gewesen – er musste gewusst haben, wohin der Brief am Ende gelangte. Er war nicht auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil, er war so ausgefuchst wie all die anderen politischen Strategen, mit denen Juri zu tun hatte. Wer sich in einem kommunistischen Land als katholischer Geistlicher hatte behaupten können und bis in das höchste Amt, gewissermaßen auf den Posten des Generalsekretärs der größten Weltkirche, aufgestiegen war, wusste sehr geschickt auf der Klaviatur der Macht zu spielen. Und dieses Amt, das er bekleidete, gab es schon seit fast zweitausend Jahren, oder? Am Alter der römisch-katholischen Kirche ließ sich nicht rütteln. Historische Tatsachen waren historische Tatsachen. Das aber machte ihre Glaubenssätze um keinen Deut gültiger. Für Juri Wladimirowitsch war der Glaube an Gott ebenso irrational wie der Glaube an Marx und Engels. Doch er wusste um die Notwendigkeit eines Glaubens als Quelle von Macht. Schlichtere Gemüter, solche, denen gesagt werden musste, was sie zu tun und zu lassen hatten, mussten an etwas glauben können, das größer war als sie selbst. Die in den verbliebenen Urwäldern der Welt lebenden Primitiven hörten im Donner immer noch die Stimme irgendeines überlegenen Lebewesens. Warum? Weil sie sich in dieser starken Welt klein und schwach wähnten. Sie hofften, die Götter milde stimmen zu können, indem sie ihnen Schweine oder sogar Kinder opferten, und wer auf dieses Verhalten Einfluss zu nehmen verstand, besaß vor allem Macht über die Sippe. Macht war eine eigene Währung. Manche kauften sich dafür Luxus oder Frauen – einer seiner Vorgänger hier im KGB hatte es auf junge Mädchen abgesehen, doch Juri Wladimirowitsch war anders gepolt. Er begehrte Macht um ihrer selbst willen. Darin mochte er sich regelrecht suhlen. Es war ihm ein Hochgenuss zu wissen, dass er andere beherrschte, dass er seine Untergebenen vernichten konnte, wenn sie nicht spurten, oder aber befördern, wenn sie ihm gefügig waren und schmeichelten.
Doch das war natürlich längst nicht alles. Macht wollte angewandt sein. Es galt, im Sand der Zeit Spuren zu hinterlassen. Gute
oder schlechte Spuren, ganz egal, Hauptsache, sie waren groß genug und fielen auf. Was ihn betraf, so war er von allen Männern im Politbüro der einzige, der wusste, was zu geschehen hatte. Nur er konnte seinem Land den Weg weisen. Wenn er diese Chance nutzte, würde er für alle Zeit in Erinnerung bleiben. Andropow wusste, dass seine Tage gezählt waren. Seine Leber spielte nicht mehr mit. Er hätte keinen Wodka mehr trinken dürfen, doch auch darin zeigte sich Macht, dass er nämlich ganz allein über seine Zukunft bestimmte. Ihm konnte keiner Vorschriften machen. Dass es sich manchmal auch lohnte, Empfehlungen anderer aufzugreifen, war ihm natürlich klar. Doch große Männer hörten nicht auf geringere, und er zählte sich zu den ganz großen. Schließlich war sein Wille stark genug, um der Welt, in der er lebte, seinen Stempel aufzudrücken. Und deshalb gönnte er sich abends das ein oder andere Glas. Auf Empfängen konnten es auch mehr sein. Sein Land wurde längst nicht mehr von einer einzigen Person regiert – es waren gut dreißig Jahre vergangen, seit Josef »Koba« Stalin mit einer Skrupellosigkeit geherrscht hatte, die selbst Iwan den Schrecklichen in seinen Stiefeln hätte erzittern lassen. Nein, diese Art von Macht war für Herrscher wie
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