Red Rabbit: Roman
hier noch keinen Regen erlebt. Aber es würde schon noch dazu kommen, ganz gewiss. Auf den Straßen führte jeder dritte Passant einen zusammengefalteten Regenschirm mit sich. Und viele trugen einen Hut. Seit seiner Zeit beim Marine Corps hatte Ryan keinen Hut mehr auf dem Kopf gehabt. Die Unterschiede zwischen England und Amerika, so befand er, waren groß genug, um ihm gefährlich werden zu können. Es gab viele Übereinstimmungen, aber eben auch Unterschiede, und von denen wurde man ausgerechnet da überrumpelt, wo man sie am wenigsten erwartete. Er würde sehr vorsichtig sein müssen, wenn er mit Sally an der Hand eine Straße überquerte. Mit ihren viereinhalb Jahren war sie schon so sehr konditioniert, dass sie mit Sicherheit zuerst in die falsche Richtung schauen würde. Er hatte sein kleines Mädchen schon einmal im Krankenhaus besuchen müssen, das reichte ihm ein für alle Mal.
Der Zug rollte jetzt auf erhöhter Trasse durch ein Häusermeer. Jack sah sich um, auf der Suche nach bekannten Ansichten. War das auf der rechten Seite nicht die St. Paul’s Cathedral? Wenn ja, würde sein Ziel bald erreicht sein. Er faltete die Zeitung zusammen. Der Zug bremste ab. Tatsächlich… Victoria Station. Jack öffnete die Abteiltür und trat hinaus auf den Bahnsteig. Über ihm wölbte sich eine gewaltige Konstruktion aus Stahl und Glas, geschwärzt vom Rauch zahlloser Lokomotiven. Und niemand hatte sich je die Mühe gemacht, die Scheiben zu putzen. Oder lag es an der Luftverschmutzung, dass sie so dreckig waren? Wer weiß? Jack folgte dem Strom derer, die mit ihm ausgestiegen waren, wurde so an den üblichen Zeitungsständen und Kiosken vorbeigeführt und gelangte schließlich nach draußen, wo er sogleich seinen Londoner Stadtplan aus der Tasche kramte. Westminster Bridge Road. Als Fußweg zu weit. Er winkte nach einem Taxi.
Unterwegs im Taxi war er wieder ganz Tourist, hielt nach allen Seiten hin Ausschau und fuhr mit dem Kopf so häufig hin und her, dass ihm schwindlig wurde. Dann war er endlich da.
Das Century House – so benannt, weil es die Nummer 100 an der Westminster Bridge Road war – sah aus wie ein typisches Verwaltungsgebäude aus der Zeit zwischen den Kriegen. Aber was war mit der Fassade? Bröckelte sie etwa? Ein orangefarbenes Kunststoffnetz war davor aufgespannt, zum Schutz der Passanten, wie es schien. Wurde das Haus womöglich entkernt, weil man russische Wanzen darin vermutete? Auf diese Überraschung war er in Langley nicht hingewiesen worden. Nicht weit entfernt spannte sich die Westminster Bridge über die Themse, und gleich daneben lagen die Houses of Parliament. Nun, die Gegend war wirklich nobel. Jack stieg über breite Stufen hinauf zu einem zweiflügligen Tor und trat in einen Vorraum, wo ein uniformierter Mann hinter einem Tresen Wache schob.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte der Wachmann in dieser typisch britischen Ausdrucksweise, die den Anschein echter Hilfsbereitschaft erweckte. Jack fragte sich, ob aus irgendeiner Ecke ein Pistolenlauf auf ihn gerichtet war. Wahrscheinlich.
»Hallo, mein Name ist Jack Ryan. Ich will meine Arbeit antreten.«
Sofort zeigte sich ein Lächeln im Gesicht des Wachhabenden. »Ah, Sir John! Willkommen im Century House. Ich sag oben
schnell Bescheid, dass Sie da sind.« Und nachdem er den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte: »Es kommt jemand, der Sie abholt, Sir. Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.«
Jack hatte kaum die Beine ausgestreckt, als er eine vertraute Gestalt durch die Drehtür kommen sah.
»Jack!«, schallte es ihm entgegen.
»Sir Basil.« Jack stand auf und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand.
»Ich habe Sie erst morgen erwartet.«
»Cathy packt die Koffer aus, da wollte ich nicht im Weg stehen, zumal sie mich sowieso nicht helfen lässt.«
»Ja, so werden wir Männer immer wieder in unsere Schranken verwiesen, nicht wahr?« Sir Basil Charleston ging auf die fünfzig zu. Er war groß gewachsen, dünn und hatte braune Haare, noch ganz ohne Grau. Braun waren auch seine Augen, die einen sehr ausgeschlafenen Eindruck machten. Der Anzug aus grauer Schurwolle mit den breiten weißen Nadelstreifen war gewiss nicht billig gewesen und verlieh ihm den Anschein eines sehr vermögenden Londoner Bankkaufmanns. Er stammte tatsächlich aus einer Bankerfamilie, doch er war aus der Art geschlagen und hatte sich nach seinem Studium in Cambridge für den Staatsdienst entschieden, zuerst als Einsatzagent, später von einem Posten am
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