Rede, dass ich dich sehe
Sprache auf Thomas Mann, was ja in diesem Hause nahelag: Im Anhang zu Manns Tagebüchern hatte ich unter dem 20. April 1952 einen Brief zitiert gefunden, den er an Adorno geschrieben hatte: »Mit Schönberg war es so: Er hatte in einem englischen Blatt noch einmal etwas völlig Insipides von sich gegeben, und ich schrieb ihm, bevor ich unter seinen Schlägen endgültig zusammenbräche, müsse er mir erlauben, den Brief zu veröffentlichen, worin er mir seine volle Genugtuung über mein bereitwilliges Eingehen auf seine Wünsche ausgedrückt habe. Die Antwort lautete: Ich hätte ihn bezwungen und versöhnt, wir wollten das Kriegsbeil begraben und gute Freunde sein.« Und? fragte ich in die Tischrunde. War es so? Waren sie am Ende »gute Freunde«?
Man schwieg. Die Söhne von Schönberg schwiegen. Zögernd sagte die Schwiegertochter: Sie haben sich ja dann gar nicht mehr gesehen. Schönberg ist ja auch bald gestorben. – Die deutsche und die englische Ausgabe des Doktor Faustus wurden herbeigeholt, die jeweiligen Nachbemerkungen verglichen, in de
nen Thomas Mann feststellt, »daß die … Zwölfton- oder Reihentechnik … in Wahrheit das geistige Eigentum eines zeitgenössischen Komponisten und Theoretikers, Arnold Schönbergs, ist«.
Thomas Mann hatte kein Unrechtsbewußtsein, wenn er Teile aus der Realität, auch aus schon zu Kunst verarbeiteter Realität, in sein Werk hereinholte und sie mit ihm verschmolz. Arnold Schönberg soll bemerkt haben, hätte er – Thomas Mann – ihm etwas von dem Buch gesagt, an dem er schrieb, er hätte ihm extra dafür ein Stück komponiert.
In demselben Brief an Adorno, 1952 also, äußert Thomas Mann sich auch ausführlich zu seinen großen Bedenken über die Richtung, in die die USA sich politisch entwickeln (»… daß ein McCarthy nicht zu beseitigen ist …«), und deutet seine Sehnsucht nach Europa an.
Aber so weit bin ich noch nicht, oder schon weiter. Herbst 1992, ich bin gerade erst angekommen in Santa Monica und ahne noch nicht, wie Zeitschollen aus verschiedenen Schichten der Jahrhundertchronik hier in Bewegung geraten, sich gegen- und übereinander verschieben werden, so daß mir oft schwindlig wird.
Da wäre die Gegenwart, in der ich lebe, Herbst 1992 bis Frühsommer 1993 – die Zeit, in der ich auch die Geschichte des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn wieder lese, die ihrerseits das erste Viertel des Jahrhunderts umfaßt, aber viel später erst, nämlich in den vierziger Jahren, als Deutschland in dem von ihm angezettelten Krieg zugrunde geht, erzählt wird von seinem treuen Freund Serenus Zeitblom, dessen Schilderungen der Katastrophe des Kriegsendes ich bewegt folge, denn diese Katastrophe habe ich, anders als er freilich, miterlebt.
Zugleich aber, vierte Zeitebene, lese ich in den Tagebüchern des Thomas Mann, was ihm die Jahre abverlangen, in denen er sein Faustbuch schreibt: nämlich eine Fülle von Schreibverpflichtungen aus persönlichen und öffentlichen Anlässen, eine kaum vorstellbare Postlawine, die er gewissenhaft bearbeitet,
seine regelmäßigen Rundfunkreden an die Deutschen Hörer , wochenlange Lesereisen in andere Teile der Vereinigten Staaten, eine schwere Operation nach einer Krankheit, deren wirklichen Charakter man ihm klugerweise verbirgt, und ein erstaunlich lebhaftes gesellschaftliches Leben in der Emigrantenkolonie in Kalifornien, dabei beginnende Auseinandersetzungen über die Zukunft Deutschlands nach dem Ende des Krieges. Als er das Buch abschließt, ist der Autor in seinem dreiundsiebzigsten Jahr.
Fehlt die fünfte Zeitebene, auf der wir uns treffen: die Jetztzeit, heute, der Tag, an dem ich vor Ihnen stehe und, nicht ohne Aufregung, dies alles erörtere. Die Tiefe der Zeit, hier tritt sie uns einmal anschaulich entgegen.
Mit neuer Erregung habe ich mich damals in den Doktor Faustus vergraben; ich las natürlich viele Bücher der Emigranten, die in dieser Region gelebt und geschrieben hatten, noch einmal oder zum ersten Mal. Der Faustus nahm mich auf besondere Art gefangen. Ich sah in ihm eine der radikalsten Selbstauseinandersetzungen der deutschen Intelligenz vor dem Nationalsozialismus, und ihr Kern war und ist mir des Teufels schauderhaftes Gebot an Adrian Leverkühn: Du sollst nicht lieben. Eine »Aura von Lebensgefühl, eine Lufthülle biographischer Stimmung« habe von Anfang an um den »thematischen Kern« dieses Buches gelegen, sagt Thomas Mann.
Nicht geliebt werden, nicht lieben können ist das Leid des Kleinen
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