Reflex
nicht zu ihr.«
»Aber Sie müssen.« Er sah besorgt aus. »Ich meine … Sie ist alt … und stirbt bald und sie will Sie …«
»Sehr bedauerlich.«
»Und wenn ich Sie nicht dazu bringen kann, wird mein Onkel … das ist der Sohn …« Er zeigte wieder auf die Visitenkarte und wurde zunehmend nervöser. »Ähm, Folk ist mein Großvater, und Langley ist mein Großonkel und … ähm … sie haben mich geschickt …« Er schluckte. »Sie sind der Meinung, daß ich absolut nichts tauge, um es ehrlich zu sagen.«
»Und das ist Erpressung«, sagte ich.
Ein schwaches Leuchten in seinen Augen verriet mir, daß er im Grunde nicht so dämlich war, wie er sich gab.
»Ich will sie nicht sehen«, sagte ich.
»Aber sie liegt im Sterben.«
»Haben Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt?«
»Ähm … nein.«
»Wetten, sie stirbt nicht. Wenn sie mich sehen will, behauptet sie einfach, daß sie bald stirbt, nur um mich einzufangen, weil sie denkt, daß sie mich nur so kriegt.«
Er wirkte schockiert. »Sie ist immerhin achtundsiebzig.«
Ich sah düster in den Dauerregen hinaus. Ich war meiner Großmutter nie begegnet und wollte ihr nie begegnen, weder sterbend noch tot. Ich hielt nichts von Reue am Totenbett, Beteuerungen am Höllentor kurz vor Torschluß. Es war verdammt noch mal zu spät.
»Es bleibt bei nein«, sagte ich.
Er zuckte entmutigt die Achseln und schien aufzugeben. Lief ein paar Schritte in den Regen hinaus, barhäuptig, verwundbar, ohne Schirm. Drehte sich nach zehn Schritten wieder um und kam zögernd näher.
»Hören Sie … mein Onkel sagt, sie braucht Sie wirklich.« Er gab sich ernst und eifrig wie ein Missionar. »Sie können sie nicht einfach sterben lassen.«
»Wo ist sie?« sagte ich.
Er strahlte. »In einem Pflegeheim.« Er kramte in einer anderen Jackentasche. »Ich habe die Adresse. Aber ich bringe Sie hin, jetzt gleich, wenn Sie mitkommen. Es ist in St. Albans. Sie wohnen doch in Lambourn? Es liegt also nicht so sehr weit ab von Ihrem Weg. Jedenfalls keine hundert Kilometer oder so was.«
»Aber immerhin gute fünfzig.«
»Tja … nun ja … Sie sind es ja gewohnt, ziemlich viel durch die Gegend zu fahren.«
Ich seufzte. Eins war so schlimm wie das andere. Eine Wahl zwischen duckmäuserischer Kapitulation und eiskalter Ablehnung. Beides ungenießbar. Daß sie mir seit meiner Geburt eiskalte Ablehnung entgegengebracht hatte, war wohl keine Entschuldigung für mich, sie auf dem Sterbebett genauso zu behandeln. Ich konnte sie auch kaum weiterhin selbstgefällig verachten, wie ich es jahrelang getan hatte, wenn ich ihrem Vorbild folgte. Ärgerlich!
Der Winternachmittag verdämmerte bereits, von Minute zu Minute leuchtete das verschwommene Licht der elektrischen Lampen heller durch den Regen. Ich dachte an mein leeres Häuschen; da gab’s nicht viel, um den Abend auszufüllen, zwei Eier, ein Stück Käse und schwarzen Kaffee zum Abendessen; die Lust, mehr zu essen, und den Zwang, es sich zu verkneifen. Wenn ich mitkam, dachte ich, würde das meine Gedanken zumindest vom Essen ablenken, und wenn mir etwas bei meinem ständigen Kampf gegen die Pfunde half, konnte es nicht nur von Übel sein. Selbst wenn es sich um eine Begegnung mit meiner Großmutter handelte.
»Also gut«, sagte ich resigniert, »bringen Sie mich hin.«
Die alte Frau saß aufrecht in ihrem Bett und starrte mich an. Falls sie im Begriff war zu sterben, dann gewiß nicht an diesem Abend. Aus ihren dunklen Augen sprach größte Lebenskraft und in ihrer Stimme lag keinerlei Todesschwäche.
»Philip«, stellte sie fest und taxierte mich von oben bis unten.
»Ja.«
»Ha!«
In diesem explosiven Laut schwang sowohl Triumph als auch Verachtung mit. Genau das hatte ich erwartet. Mit ihrem eisernen Willen hatte sie meine Kindheit zerstört und bei ihrer eigenen Tochter noch weit größeres Unheil angerichtet, und ich stellte zu meiner Erleichterung fest, daß ich mich auf keinerlei sentimentales Flehen um Verzeihung gefaßt machen mußte. Die Devise war immer noch Ablehnung, wenn auch in gemäßigter Form.
»Ich wußte, daß du sofort angerannt kommst, wenn du von dem Geld hörst«, sagte sie. Ihr kalter Hohn war nicht zu überbieten.
»Was für Geld?«
»Die hunderttausend Pfund natürlich.«
»Von Geld hat niemand was gesagt«, sagte ich.
»Lüg nicht. Was hätte dich sonst hergetrieben?«
»Man hat mir gesagt, daß du im Sterben liegst.«
Sie bedachte mich mit einem verblüfften, boshaften Blitz aus ihren
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