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Reflex

Reflex

Titel: Reflex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dick Francis
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Augen und einem Zähneblecken, das nichts mit einem Lächeln zu tun hatte. »Früher oder später trifft es jeden.«
    »Genau«, sagte ich. »Und wir bezahlen alle den gleichen Preis. Eines Tages, wenn die Zeit reif ist.«
    Sie entsprach wahrlich nicht dem Idealbild einer lieben, kleinen, rosenwangigen Oma. Ein hartes, stures Gesicht mit tief eingegrabenen Falten der Mißbilligung um den Mund herum. Eisgraues Haar, immer noch kräftig, sauber und gut frisiert. Ihre bleiche Haut war braun gefleckt von Alterssommersprossen, und auf ihren Handrücken wölbten sich dunkle Adern. Eine magere Frau, fast ausgemergelt, und hochgewachsen, soweit ich das beurteilen konnte.
    Der große Raum, in dem sie lag, war eher wie ein Wohnzimmer mit Bett als wie ein Krankenzimmer eingerichtet. Das paßte zu dem Gesamteindruck, den ich bei meinem Gang durch das Haus gewonnen hatte. Ein umfunktioniertes Landhaus: Hotel mit Pflegepersonal. Überall Teppiche, lange Chintzvorhänge, Blumensträuße. Kultiviertes Sterben, dachte ich.
    »Ich habe Mr. Folk Anweisung gegeben, dir das Angebot zu machen«, sagte sie.
    Ich überlegte. »Dem jungen Mr. Folk? Etwa fünfundzwanzig? Jeremy?«
    »Unsinn.« Sie war ungehalten. »Mr. Folk, meinem Anwalt. Ich habe ihn beauftragt, dich hierherzuschaffen. Und er hat seinen Auftrag erfüllt. Du bist hier.«
    »Er hat seinen Enkel geschickt.«
    Ich trat von ihrem Bett zurück und setzte mich unaufgefordert in einen Sessel. Warum hatte Jeremy wohl die hunderttausend Pfund nicht erwähnt? Eine Kleinigkeit, die man eigentlich nicht so leicht vergaß.
    Meine Großmutter starrte mich ohne jedes Zeichen der Zuneigung unentwegt an und ich starrte zurück. Mir mißfiel ihre Gewißheit, daß man mich kaufen konnte. Ihre Verachtung stieß mich ab, und ich mißtraute ihren Absichten.
    »Ich werde dir in meinem Testament hunderttausend Pfund vermachen, unter gewissen Bedingungen«, sagte sie.
    »Nein, das wirst du nicht tun«, sagte ich.
    »Wie bitte?« Eiskalte Stimme, versteinerter Blick.
    »Ich sagte nein. Kein Geld. Keine Bedingungen.«
    »Hör dir erst mal meinen Vorschlag an.«
    Ich sagte nichts. Ehrlich gesagt, regte sich eine gewisse Neugier in mir, aber das durfte sie auf keinen Fall merken. Da sie es offenbar nicht eilig hatte, dehnte sich das Schweigen aus. Weitere Bestandsaufnahme ihrerseits, vielleicht. Reine Geduld meinerseits. Da ich unter völlig ungeordneten Umständen aufgewachsen war, besaß ich die nahezu grenzenlose Fähigkeit zu warten. Auf Leute zu warten, die nicht kamen; und auf Versprechen, die nicht erfüllt wurden.
    Schließlich sagte sie: »Du bist größer, als ich dachte. Und härter.«
    Ich wartete weiter.
    »Wo ist deine Mutter?« sagte sie.
    Meine Mutter, ihre Tochter. »In den Wind gestreut«, sagte ich.
    »Was soll das heißen?«
    »Ich glaube, sie ist tot.«
    »Du glaubst es!« Sie schien eher ärgerlich als besorgt. »Weißt du es denn nicht?«
    »Sie hat’s mir nicht direkt schriftlich gegeben, daß sie tot ist, nein.«
    »Deine Frivolität ist unerhört.«
    »Dein Verhalten seit meiner Geburt gibt dir nicht das Recht, so etwas zu sagen«, sagte ich.
    Sie blinzelte. Ihr Mund öffnete sich und stand volle fünf Sekunden offen. Dann schloß er sich fest, so daß die Muskeln an ihrem Kiefer hervortraten, und sie starrte mich mit einer beängstigenden Mischung aus Zorn und Feindseligkeit finster an. Ich erkannte an diesem Gesichtsausdruck, womit meine arme Mutter sich einst hatte auseinandersetzen müssen, und wurde jäh von Mitleid für diesen hilflosen Schmetterling ergriffen, der mich geboren hatte.
    Als ich noch ganz klein war, hatte man mich eines Tages in neue Kleider gesteckt und ermahnt, ganz brav zu sein, weil ich mit meiner Mutter meine Großmutter besuchen sollte. Meine Mutter hatte mich dort, wo ich damals gerade wohnte, abgeholt, und wir waren mit dem Auto zu einem großen Haus gefahren, wo man mich allein in der Eingangshalle warten ließ. Hinter einer weißgestrichenen, geschlossenen Tür war lautstark gestritten worden. Dann war meine Mutter weinend herausgekommen, hatte mich bei der Hand gepackt und hinter sich her zum Auto gezerrt.
    »Komm, Philip. Wir werden sie nie wieder um einen Gefallen bitten. Sie wollte dich nicht einmal sehen. Vergiß das nie, Philip, deine Großmutter ist ein gehässiges Biest.«
    Ich hatte es nicht vergessen. Ich hatte selten daran gedacht, aber ich konnte mich noch deutlich erinnern, wie ich auf dem Stuhl in der Halle saß, ohne mit den

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