Reflex
ihm das Schweigen nicht entgangen, und er hatte sich sein Teil gedacht. Er hatte seinen Vater all die Jahre pflichtschuldig verteidigt; und er wußte Bescheid.
Als ich so im Regen zurücktrottete, kam es mir dennoch sonderbar vor, daß wir George Millace nie wiedersehen sollten. Ich sah seine altvertraute Erscheinung vor meinem inneren Auge: leuchtende, kluge Augen, lange Nase, Hängeschnauzer, zu einem säuerlichen Lächeln verzogener Mund. Zugegeben, ein fantastischer Fotograf mit einem außergewöhnlichen Talent für Vorahnungen und gutes Timing, stets mit dem Objektiv zur rechten Zeit am rechten Ort. Ein Witzbold, auf seine Art: Erst vor knapp einer Woche hatte er mir ein Hochglanz-Schwarzweißfoto gezeigt, das mich im Sturzflug zeigte, Nase nach unten, Hinterteil in der Luft. Die Legende auf der Rückseite lautete: ›Philip Nore – … Arsch hoch zum Grashüpfen!‹ Wenn hinter seinem Humor nicht diese tiefsitzende Mißgunst gesteckt hätte, hätte man lachen können. Wenn nicht diese Grausamkeit in seinen Augen gelauert hätte, hätte man seinen entlarvenden Ansatz zumindest tolerieren können. Er hatte gewissermaßen Bananenschalen verstreut und dann auf der Lauer gelegen, um sich über diejenigen lustig zu machen, die darauf ausrutschten; man würde ihn dankbar vermissen.
Als ich schließlich in den Schutz der Veranda vor dem Waageraum trat, empfingen mich Trainer und Besitzer mit der erwarteten vorwurfsvollen Miene.
»Ziemlich übel verschätzt, wie?« sagte der Trainer aggressiv.
»Er ist einen Schritt zu früh abgesprungen.«
»Ihr Job, ihn richtig ranzuführen.«
Zwecklos, darauf hinzuweisen, daß kein Jockey auf der Welt jedes Pferd jederzeit perfekt springen lassen kann, und ein schlecht geschultes, das bockt, schon gar nicht. Ich nickte nur und lächelte den Besitzer leicht bekümmert an.
»Man könnte es mit Scheuklappen versuchen«, sagte ich.
»Darüber habe ich zu entscheiden«, sagte der Trainer scharf.
»Sie sind doch nicht verletzt?« fragte der Besitzer besorgt. Ich schüttelte den Kopf. Der Trainer würgte diese menschliche, Jockey-bezogene Erkundigung ab und schleuste seine Geldquelle aus der Gefahrenzone hinaus, ehe ich irgend etwas Wahres darüber sagen konnte, warum das Pferd nicht sprang, wenn es dazu aufgefordert wurde. Ich sah ihnen ohne Bitterkeit nach und wandte mich dann zur Tür des Waageraumes.
»Äh, sind Sie nicht Philip Nore?« sagte ein junger Mann und versperrte mir den Weg.
»Bin ich.«
»Tja … könnte ich Sie einen Moment sprechen?«
Er war ungefähr fünfundzwanzig, langbeinig wie ein Storch, ein aufrechter Mensch mit büroblassem Teint. Grauer Flanellanzug, gestreifte Krawatte, kein Fernglas und an diesem Ort hier, wo Unbefugte keinen Zutritt hatten, völlig fehl am Platze.
»Klar«, sagte ich. »Wenn Sie warten wollen, bis der Arzt mich durchgecheckt hat und ich mir was Trockenes angezogen habe.«
»Arzt?« Er schien erschrocken.
»Ach … Routine. Nach einem Sturz. Dauert nicht lang.«
Als ich aufgewärmt und in Straßenkleidung wieder herauskam, stand er immer noch da, und er war mehr oder weniger allein auf der Veranda, weil fast jeder sich das letzte Rennen ansah, das bereits im Gange war.
»Ich … ähm … Mein Name ist Jeremy Folk.« Er zog eine Visitenkarte aus seinem grauen Jackett und hielt sie mir unter die Nase. Ich nahm sie und las: Folk, Langley, Sohn und Folk.
Rechtsanwälte, St. Albans, Hertfordshire.
»Der letzte Folk da«, erklärte Jeremy bescheiden, »das bin ich.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
Er lächelte mich scheu an und räusperte sich.
»Man hat mich geschickt … ähm … Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß … ähm …« Er stockte, wirkte hilflos und ganz und gar nicht wie ein Anwalt.
»Daß was?« sagte ich ermutigend.
»Die meinten, daß es Ihnen gar nicht recht sein wird … aber, also … Man hat mich geschickt, um Sie zu bitten, ähm …«
»Raus damit«, sagte ich.
»Sie sollen Ihre Großmutter aufsuchen.« Die Worte purzelten überstürzt hervor, und er schien erleichtert, daß er sie los war.
»Nein«, sagte ich.
Er sah mir prüfend ins Gesicht, und meine Gelassenheit schien ihm Mut zu machen.
»Sie liegt im Sterben«, sagte er. »Und sie möchte Sie sehen.«
Vom Tod umgeben, dachte ich. George Millace und die Mutter meiner Mutter. In beiden Fällen war es nicht weiter bedauerlich.
»Haben Sie verstanden?« sagte er.
»Ja.«
»Also dann. Geht es heute?«
»Nein«, sagte ich. »Ich gehe
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