Reflex
machen, selbst wenn ich es könnte.«
»Ich will nicht, daß du Caroline suchst. Ich glaube, du hast recht, sie ist tot.« Diese Vorstellung bereitete ihr ersichtlich keinen Kummer. »Ich möchte, daß du deine Schwester suchst.«
»Meine … was?«
Die feindseligen dunklen Augen taxierten mich listig. »Du hast nicht gewußt, daß du eine Schwester hast? Aber du hast eine. Ich vermache dir hunderttausend Pfund in meinem Testament, wenn du sie findest und zu mir bringst. Und glaub ja nicht, daß du mir irgendeine kleine Schwindlerin präsentieren kannst, auf die ich dann hereinfalle«, fuhr sie bissig fort, bevor ich zu Wort kam. »Ich bin zwar alt, aber kein bißchen verkalkt. Du müßtest Mr. Folk eindeutig beweisen, daß das Mädchen meine Enkelin ist. Und Mr. Folk wird nicht leicht zu überzeugen sein.«
Ich hörte die scharfen Worte kaum, sondern spürte nur einen seltsam heftigen Schock. Ich war der einzige gewesen. Die einzige Frucht des Schmetterlings. Ich spürte eine unangebrachte, brennende Eifersucht, weil es eine zweite gab. Sie hatte mir allein gehört, und jetzt mußte ich sie teilen, mußte ihr Andenken revidieren und teilen. Ich dachte verwirrt, daß es lächerlich war, sich mit dreißig zurückgesetzt zu fühlen wie ein Zweijähriger.
»Also?« sagte meine Großmutter scharf.
»Nein«, sagte ich.
»Es ist eine Menge Geld«, fuhr sie mich an.
»Wenn man’s hat.«
Sie war wieder empört. »Du bist unverschämt!«
»Klar doch. Wenn das dann alles ist, geh ich mal lieber wieder.« Ich drehte mich um und ging zur Tür.
»Warte«, sagte sie hastig. »Willst du nicht wenigstens ein Bild von ihr sehen? Da drüben auf der Kommode liegt ein Foto von deiner Schwester.«
Ich blickte über die Schulter zurück und sah, wie sie Richtung Kommode nickte. Sie mußte das Zögern meiner Hand auf der Türklinke bemerkt haben, denn sie sagte zuversichtlicher: »Schau sie dir mal an. Wirf mal einen Blick auf sie.«
Ohne recht zu wollen, aber getrieben von nicht zu leugnender Neugier, trat ich zur Kommode hinüber. Dort lag ein Foto, ein ganz normaler Schnappschuß fürs Familienalbum in Postkartengröße. Ich nahm es auf und hielt es ins Licht.
Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, auf einem Pony.
Das Kind hatte schulterlanges braunes Haar und trug ein rotweiß gestreiftes T-Shirt und Jeans. Sie saß auf einem unscheinbaren grauen Welsh-Pony mit gepflegtem Sattel und Zaumzeug. Das Foto war offenbar auf einem Reiterhof aufgenommen, beide sahen zufrieden und wohlgenährt aus, aber der Fotograf hatte zu weit weg gestanden, um das Gesicht des Kindes deutlich herauszuholen. Eine Vergrößerung könnte da etwas weiterhelfen.
Ich drehte das Foto um, aber auf der Rückseite stand kein Hinweis darauf, wo es herkam oder wer es aufgenommen hatte.
Etwas enttäuscht legte ich es wieder auf die Kommode zurück. Dabei fiel mein Blick auf einen Briefumschlag, der in der Handschrift meiner Mutter beschriftet war, und ich verspürte einen Stich von Wehmut. Er war an meine Großmutter, Mrs. Lavinia Nore, in dem alten Haus in Northamptonshire adressiert, wo ich einst in der Halle hatte warten müssen.
Im Umschlag ein Brief.
»Was machst du da?« sagte meine Großmutter aufgeregt.
»Lese einen Brief von meiner Mutter.«
»Aber ich … Der Brief sollte nicht da liegen. Leg ihn sofort zurück. Ich dachte, er liegt in der Schublade.«
Ich ignorierte sie. Die schwungvolle, extravagante, extrovertierte Schrift sprang mir so lebendig vom Papier ins Auge, als wäre meine Mutter hier im Raum gewesen mit ihrer Überschwenglichkeit und ihrem halben Lachen, wie immer um Hilfe bittend.
Dieser an irgendeinem zweiten Oktober geschriebene Brief war kein Scherz.
Liebe Mutter,
Ich weiß, daß ich gesagt habe, daß ich Dich nie wieder um irgend etwas bitten würde, aber ich versuche es noch einmal, weil ich – dumm wie ich bin – immer noch hoffe, daß Du Deine Meinung eines Tages doch noch änderst. Ich schicke Dir ein Foto von meiner Tochter Amanda, Deiner Enkelin. Sie ist richtig niedlich und lieb und jetzt schon drei, und sie braucht ein ordentliches Zuhause und muß zur Schule gehen und alles, und ich weiß, daß Du kein Kind um Dich haben willst, aber wenn Du einen Beitrag leisten oder vielleicht sogar eine Unterhaltsverpflichtung unterschreiben würdest, könnte sie bei wirklich himmlischen Leuten unterkommen, die sie lieben und bei sich behalten möchten, sich aber kein weiteres Kind leisten können, weil sie
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