Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
sollte genau um 17 Uhr 30 da sein, und es ist 17 Uhr 30. Er überlegt, ob er eine der Türen öffnen soll. Plötzlich grüßt ihn jemand, in seinem Rücken, er wendet sich um, ein sehr großer Mann mit breitem Lächeln streckt ihm seine sehr große Hand entgegen, während er entschieden an ihm vorbeischaut. Du denkst, nun gut, ich kann nicht mehr zurück; nun kann ich wirklich nicht mehr zurück.
Denk an den Garten. Denk, du würdest daliegen, und die Finger der Frau, die Finger der Schwester der Frau würden dich endlos zärtlich berühren, endlos, ziellos, dich, den Bruder, ein Bruder, also fast kein Mann, fast eine Schwester. Leck meine Beine ab und ich verbrenne. In diesem Garten ist die Zeit enthalten, nein, nicht in diesem Garten, im Bild von diesem Garten, nein, nicht im Bild von diesem Garten, in der Rückkehr ins Bild von diesem Garten, nein –
Denk an eine Abfolge von Räumen, wie die Zimmer einer großen, unüberschaubaren Wohnung, die Geschichte bestünde einfach darin, von Raum zu Raum zu gelangen. Er denkt sich die Abfolge von Räumen, seine leere Wohnung, das Bild eines Gartens, was noch. Es gibt eine verzauberte Stelle inmitten des Waldes, wo er immer sein wird; und wer, den er liebt, mit ihm; und was werden sie tun. Er schließt die Augen, ein winziger Esel trottet auf ihn zu, mit ins freundliche Gesicht genähtem Lächeln, er öffnet die Augen wieder. Der nächste Raum –
Er hat so gut wie nichts zu machen, nur da zu sein, fühlt sich herumgeschoben. Durch Korridore und über Treppen, dann in eine Garderobe, wo er lange herumsitzt und wartet, vergebens horcht, ob von irgendwoher die Stimme der Tänzerin zu hören ist. Von weither dringt irgendwann dumpfes Pianospiel ins Zimmer, er erkennt Thelonious Monk, Straight no chaser , wenn er sich nicht irrt. Ihm gegenüber steht auf einer Art Kommode ( Psyche sagte man rätselhafterweise in seiner Kindheit zu einem Schlafzimmermöbel dieser Art) ein großer Spiegel, in den er nicht hineinschaut, er trinkt ein Bier, das ihm eine freundliche junge Frau gebracht hat. Die Tänzerin erscheint nicht, aber es ist sicher, dass sie sich in irgendeinem Nebenraum vorbereitet; sie ist vorbereitet; sie bestimmt, was geschehen wird, und es ist ihm recht so. Die freundliche junge Frau prüft seine Kleider und nickt, geschminkt werden Sie ja nicht, murmelt sie, er wird wieder durch Gänge geführt, von Gang zu Gang wird es dunkler. Nach zwei oder drei Treppen und drei oder vier Wendungen, die er nicht rekonstruieren könnte, ist er offenbar nur noch durch eine verschiebbare Wand von der Bühne getrennt und immer noch allein; er weiß nur, dass er sich an ein Pult stellen soll. Er beginnt, die Tänzerin zu vermissen, wie jemanden, den er wirklich kennt oder gar liebt. Es ist nur Angst, es ist keine Liebe; er kennt nur die Angst, nicht die Liebe. Hinter sich hört er Stimmen, vor sich ein unbestimmtes Getuschel, ein leises Poltern und Hüsteln. Die freundliche junge Frau, die ihm vor einer halben Stunde sein Bier gebracht hat, nickt ihm zu, und er setzt sich in Bewegung, während die Leere in ihm sich ausdehnt, durch seine Haut dringt.
Wie ein Kind in einem Traum verlangst du nach einem begütigenden Blick, einem Blick wie aus dem Jenseits, dem Mama-Papa-Blick, der, ohne dass du es verdient hast oder verdienen musst, deine Existenz rechtfertigt; oder du verlangst einfach nach menschlicher Gegenwart; etwas, das in der Welt, in der du diese Tage, diesen Tag, diesen Abend verbringst, nicht zu finden ist und das schon einem Blick aus dem Jenseits entsprechen würde in seiner Unwahrscheinlichkeit und dich deshalb zu jeder Zeit in deine Träume (unter deine Toten) zurückzieht. Du lebst in einer Welt, die nur durch einen Lufthauch zusammengehalten wird; die nur ein winziger Moment vom endgültigen Auseinanderfallen oder von der allerschärfsten Klarheit trennt, so lang hältst du dich ängstlich fest an deiner Erwartung eines Blickes. Man streichelt dich. Alles ist wieder gut. Du bist am Leben.
Das Licht blendet ihn, der Boden ist aus Holz, das Pult steht vorne an der Bühnenrampe, grell beleuchtet, der Zuschauerraum liegt im Dunklen. Später sieht er die Köpfe, nicht allzu viele Köpfe, als Schatten. Er geht auf das Pult zu, auf dem einige Blätter Papier liegen. Thelonious Monk spielt (er sieht sich stolpern) Straight no chaser , aus irgendwelchen Lautsprechern, die an einer Stelle des Raums oder mehreren für ihn nicht zu ortenden Stellen des Raums angebracht sind; als
Weitere Kostenlose Bücher