Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Schuhspitzen, die Räder des Kinderwagens an den Fersen. Alles ist eine Frage des Rhythmus; das Spiel hat seinen eigenen Rhythmus, Leute von außerhalb des Spiels sind nichts als Hindernisse (oder ist es eher umgekehrt). Manchmal zwinkert ihm jemand zu, den er nicht kennt, er tut so, als würde er es nicht bemerken, auch wenn sein Herz in diesen Momenten etwas schneller klopft, das Gas abdrehen, denkt er, und, bis bald mal wieder.
Er wagt nie, die Frau anzurufen, sie lässt ihm ihren Plan zukommen.
Er schaltet den Computer an, eine neue Nachricht, sein Herz klopft etwas schneller; jemand hat eine Nachricht für ihn, denkt an ihn, zwinkert ihm zu. Lass dich fallen, steht, ohne Anrede, in dem Mail. Es ist eine Schande, in einer Wohnung zu wohnen, Kleider zu tragen, durch Fenster auf die Straße, in die Welt zu schauen, Grenzen durch den Raum zu ziehen. Doktor Steiner.
Keiner kann einen anderen ersetzen. Aber die Marken im Spiel sind austauschbar, die Leerstellen sind zu besetzen, mit fast beliebigen Figuren.
Sie steht auf der kahlen Bühne, in einem leeren Saal, in dem in einigen Tagen eine Vorstellung stattfinden wird, die sich von allen ihren bisherigen Vorstellungen unterscheidet; im Raum ist nur ein Mann, der die Scheinwerfer einrichtet, auf der Bühne sind kleine Kreise, Kreuze und Pfeile markiert, der Mann hat einen sekundengenauen Zeitplan vor sich liegen. Während sie auf der Bühne ist, abgetastet von den Lichtpunkten, sieht sie ihn nicht, sie gibt ins Dunkel hinein Anweisungen. Sie sieht niemanden, wenn sie auf der Bühne ist, aber sie weiß, dass jemand da ist, dass der Raum sich öffnen kann, so wie sie, wenn sie zu Hause auf ihrem Sofa liegt, manchmal denkt, es müsste möglich sein, irgendwo in diesen dreißig Quadratmetern Wohnraum eine bisher unbekannte Tür zu finden; einen Raum hinter dieser Tür, einen Schacht; vielleicht ein leeres Zimmer am Ende dieses Schachtes. Eine zweite Wohnung in dieser Wohnung, eine zweite Welt in dieser Welt.
Der Zuschauerraum ist eine schwarze Fläche ohne Muster und Halt, in die sie endlos abstürzen kann, so wie die Zimmer decke eine graue Fläche ohne Muster und Halt ist, von der sie endlos abstürzen kann, zwischen der Bühne und ihrem Sofa gibt es für sie keinen Unterschied. Sie ist hier wie dort für sich und der Welt ausgesetzt. Hier, auf der Bühne, kann sie planen, auf welche Art sie die Kontrolle verliert. Sie kann ihre Haut wie die einer ganz jungen Frau (die sie nie gewesen zu sein glaubt) in der Sonne aufleuchten lassen, die Haut ihrer Arme, ihrer Schenkel, ihren weißen Nacken, sie kann mit Lehm verklebt zwischen Leben und Tod taumeln und zucken, sie kann in der Nacht verschwinden, fast zur Gänze, oder hinter den Schleiern einer Filmprojektion: Scheinwerfer, Schminke entscheiden über ihre Existenzform, sie wohnt an Orten aus der Vergangenheit oder der Zukunft; ein Lichtstrahl greift in den Abgrund aus Weiß oder Grau oder Schwarz hinein und holt die Orte in die Gegenwart. Die Gegenwart ist die äußerste Fremde.
Sie steht auf dem für die Figur vorbereiteten Platz. Der Raum ist dunkel; ab und zu lässt sich ein Lichtpunkt irgendwo auf ihrer Haut nieder, sickert durch, in die Muskeln, die Eingeweide, die Knochen, lässt etwas erscheinen, in diesen Knochen, diesen Eingeweiden, auf dieser Haut; etwas, das du nicht kennst und nie gekannt hast: etwas, das du früher mit deinen Augen, durch Fenster hindurch, die die Welt durchschnitten, wahrgenommen hast; das du nicht verschlungen hast; von dem du dich nicht verschlingen ließest. Das Licht lässt dich spüren, was dich die Berührung eines Körpers nie spüren hat lassen: nie zur Gänze spüren, immer nur erahnen hat lassen. Du kontrollierst deine Bewegungen nur im ersten Moment, dann übernimmt etwas anderes die Kontrolle. Mona, denkt sie, tote Schwester, Körper meines Schattenkörpers. Ich tanze mit meinem halben Körper.
Es gibt Blicke von außen und Blicke von innen, die Blicke der Abwesenden, die sich in deinen Körper geschlichen haben, verletzen am schärfsten. Alles ist in dir drin, quillt hervor, die ganze Erinnerung, die ganze Zukunft, die ganze Familie (diese Keimzelle der Gesellschaft), die ganze Gesellschaft (diese Keimzelle deines Innenlebens). Deine Schwester hat sich, während du für die Wahrheit kämpftest und in der Lüge versankst, erschossen mit einer Polizeiwaffe, als wäre sie aufgeteilt in die Staatsgewalt und einen Menschen, den die Staatsgewalt erstickt. Sie hat nicht geredet,
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