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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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wen aus seinem früheren wirklichen Leben zu beeindrucken. Immer ist es Sommer, du trägst ein kurzes Kleid , liest die Stimme vor, ein Text parallel zu dem seinen, alten, dahinphantasierten, dann erzählt sie von einem Wald und einem Baum und einem Ast, und er sieht wieder, so wie vor Monaten auf seinem Sofa, den erkaltenden Körper unter dem Ast; die Ameisen können reden und die verfaulenden Blätter (er kann sich vorstellen, dass man sich als Vater seinen Kindern gegenüber sowieso schon als Toter fühlt, er aber hat keine Kinder und wollte niemals Kinder haben, er glaubt an die Rückkehr und hat vielleicht immer an die Rückkehr und nichts als die Rückkehr geglaubt), der Schatten frisst das Licht auf und das Licht den Schatten, hinter jedem beleuchteten Fenster bei Nacht kannst du jemanden hervorholen und zum Reden bringen. Die Welt ist eine endlose Fläche, in der Texte parallel zueinander liegen, einander da und dort berühren, Licht essen, als wären sie Schatten, Schatten essen, als wären sie Licht, Lebenstexte mit Anfang und Ende, man kann zum Anfang zurückkehren, das Ende kennt man.
    Die Stimme verstummt, das Licht verlöscht und geht an; richtiges Licht, kein Bühnenlicht, er hat es verabsäumt, sich zu bewegen.
    Das Publikum hüstelt peinlich berührt, ist aber vor allem gelangweilt. Dreiundzwanzig Menschen (er hat Zeit, sie zu zählen), darunter sechzehn Frauen. Die meisten klatschen nun doch höflich, kein Lächeln ist zu sehen, ein Typ scheint eben erst aufzuwachen, ein anderer, in der letzten Reihe, pfeift und dreht sich zum Ausgang hin um.
    All das ist aber egal, denn diese Leute haben Gesichter und eines davon (eben erst scheint sie den Kopf gehoben zu haben) ist das Gesicht von Pre. Ihre Frisur ist anders, aber er ist sich sicher, dass er nicht irgendeine Fremde mit ihr verwechselt, dieses Gesicht kann er nicht vergessen haben, nur weil er es nun seit einem Jahr oder länger nicht gesehen hat. Möglicherweise schaut sie ihn direkt an, mit einem Ausdruck, aus dem nichts herauszulesen ist, sie sitzt in der dritten Reihe zwischen zwei Männern, von denen einer zu ihr gehören mag (wenn es nicht beide sein sollten und vielleicht auch noch die Frau neben dem Mann zu ihrer Linken und vielleicht noch dieser oder jener andere im Saal). Aber ja, sie schaut ihn direkt an.
    Es gibt keine andere Richtung als zurück.
    Müsstest du nicht jetzt noch einmal von vorn anfangen, wie ein Kind.
    Mona, denkt sie, während sie den Text liest, erreicht diesen Toten nicht, etwas hält sie fest, sie ziehen auf parallelen Bahnen. So wie sie nicht Mona erreicht und nicht diesen Toten, welche Instrumente und Figuren sie auch immer verwendet; nicht außerhalb des kleinen leeren Raums jedenfalls. Man muss gar nicht tot sein, denkt Mona, denkt sie.
    Für einen Moment scheint ihm, er hätte die Gesellschaft gesehen, die seinem Begräbnis beiwohnt. Für einen Moment scheint ihm, das ist der Blick, den Pre auf seinen Sarg werfen wird, dieser Blick, aus dem nichts herauszulesen ist. Der fest verschraubte Sarg, die Blumen und die Löffelchen voll Erde, die auf ihn fallen, die Blicke, die nur auf Holz treffen, auf nichts als Holz in der feuchten Erde, und sandige Erde, die sich auf dem Holz verteilt.
    Die Machinationen der Künstlerin , steht am übernächsten Tag in der Zeitung, hinterlassen einen ratlos. Was es mit dem armen Walter Steiner auf sich hat, begreift niemand. Ebensowenig wie die Reminiszenzen an eine längst verstaubte Aktionskunst der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts und die anscheinend schlecht verdauten ostasiatischen Mystizismen, die den Abend tragen sollen. Da und dort zu vermutende autobiographische Spuren bleiben im Vagen. Man wartet vergeblich auf ein schlüssiges Konzept, das die gewiss drängenden Komplexe von Erinnerung, Abwesenheit und Identität, wie im Programmheft versprochen, in eine tänzerische Sprache fasst. Alles in allem –
    Also eine Abfolge von Räumen, als wäre all das, dein ganzes Leben, eine Wohnung, die du anfangs nicht überblickst, unter den Treppen gibt es geheime Räume, es gibt Zimmerfluchten und Ausgänge, immer wieder Ausgänge, Auswege ins Freie, so scheint es, bevor sich zeigt, dass auch diese Räume (erstaunlicherweise: selbst die Wälder, die Gebirge, ganze Städte und Flüsse und Meere) Teil der Wohnung sind, alle deine Toten wohnen hier irgendwo, du kannst nicht sagen, wo, manchmal siehst du sie aus der Ferne, in irgendeinem Raum, wo du vielleicht selbst einmal

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