Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
die Geschichte vielleicht sogar herbeigeführt haben und in eine Form bringen, ohne aber ihren Kern zu berühren. Steiner zieht, so wie sie, nur auf eine ganz andere Art, seine Kreise, erzählt ihr, mit seltsamer Vertrauensseligkeit, von den Spuren, die ihn zu ihr und an diesen Platz und bald an den Platz außerhalb der Wirklichkeit, der ihre Heimat und ihr Gefängnis ist, geführt haben, und sie tut, als würde sie auf seine Fragen antworten, könnte aus zusammenhanglosen Zeichen ein Bild formen. Ein Garten, dessen Ort er nicht kennt, ein Haus am Stadtrand.
– Der alte Mann ist kein Guru, sagt sie, er versteht überhaupt nicht mehr als ich oder du. Er hat bloß irgendwas gefunden; die richtigen Leute laufen ihm zu, und er kann sich zum Verschwinden bringen. Hast du das Zimmer gesehen, fragt sie ihn, und weiß, noch während sie fragt, was er antworten wird, nein, was für ein Zimmer –
Er bekommt keine Antwort, ihm ist kalt; die Frau, die ihm gegenübersitzt, scheint ihm so unwirklich, als hätte er sie erfunden, er stellt sich vor, sich mit einem Menschen zusammenzukuscheln, mit Pre, die Augen zu schließen, sich nicht mehr zu rühren, während draußen vor dem Fenster die Zeit weiterläuft. Er spürt die Wärme der aneinandergeschmiegten Körper, nein, er spürt, dass er sie nicht mehr spürt und vielleicht nie mehr spüren wird. Er erzählt der Frau, in einer (weil er nicht von seinem Körper und nicht von seinem Begehren sprechen mag, von keinem seiner Begehren und keiner seiner Sehnsüchte, obwohl er dieser Frau vielleicht seinen Körper und sein Begehren, die Hülle seiner Sehnsüchte schon überantwortet hat) die Hälfte verschweigenden Version, von dem einen Video, das er zufällig im Fernsehen gesehen hat, jaja, sagt sie, Geborenwerden aus dem Grab, Lehm und Erde, das kennt man, sie denkt: zwischen Leben und Tod taumeln. Von dem Video mit dem Wald braucht er nicht zu sprechen.
Er redet, als wären er und diese Frau im selben Raum, schaut ihr in die Augen, sie weicht ihm aus, denkt er, gleichzeitig scheint sie gar nicht darauf geachtet zu haben, was er sagt, sondern auf das gehorcht, was er verschwiegen hat.
Er ist so allein, denkt sie, dieses Schaf, er hat alles verlernt. Er weiß nicht, was er tun soll. Sie kann ihn wie ein kleines Kind formen, verformen, nur die Widerstandskräfte eines kleinen Kindes kann sie in ihm nicht mehr auslösen. Er ist so allein, aber es ist nicht sie, die er berühren möchte, auch wenn er sie anschaut wie ein Verliebter; wie ein verliebtes Schaf. Sie sagt, es geht um die Spannung der Haut, die Wölbung der Pupillen, nicht um Nähe: jemand berührt einen anderen und der andere ist gar nicht da. Denken Sie an eine rasende, verzweifelte Verliebtheit, aber eine Verliebtheit in niemanden, und sie hält ihr weißes Gesicht seinem Blick entgegen. Sie denkt, die Fresse abmontieren , etwas Ekliges wird zum Vorschein kommen. Der verwesende Kern; der Kern der Lüge; etwas Ekliges, das das einzig Wahrhafte wäre, daraus sollte etwas folgen. Er hört ihr zu; ein Tier streckt sich in ihm, und dann ist da nichts als Leere, ein gähnender Kern von Leere.
Er ist sich nicht mehr sicher, ob die Tänzerin und er wirklich das Gleiche wollen oder nicht vielmehr das Gegenteil. Aber dadurch hängen sie nur umso fester aneinander, er kann nicht mehr zurück, jedenfalls wüsste er nicht, wohin zurück. Okay, denkt sie, komm in mein Gefängnis, vielleicht fühlst du dich dort frei.
Als er die Tür hinter sich zuschlägt, hört er das Telefon läuten, er kümmert sich nicht darum. In der Wohnung, die er zurücklässt, gibt es nichts mehr, denkt er, außer einem unablässig läutenden Telefon, nicht einmal Wände, nicht einmal Zimmer, nur dieses Telefon oder auch nur dieses Läuten, das kein Telefon mehr braucht.
Er nimmt die U-Bahn, in der Garage wartet sein Auto wie jemand, den man verlassen hat. Am anderen Ende des Waggons stochert ein Mann mit einem Kugelschreiber in seinem Ohr, er schaut ihm ruhig aus großer Entfernung zu. Unter der grauen Schicht, die die Menschen bedeckt, glaubt er ein Leuchten wahrzunehmen. Der Saal ist noch geschlossen, er zögert, bevor er das unversperrte kleine Eingangstor an der Seite des Gebäudes aufschiebt, geht eine Treppe hoch in Richtung zu den Büros. Ein junger Mann läuft an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, er geht zwei oder drei Mal einen Gang hin und her, hinter einer Tür hört er Stimmen. Er schaut auf die Uhr, denkt, er ist zu früh, zu spät, aber er
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