Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
reißt den Schuh herunter, dann den rechten Schuh, sie richtet sich wieder auf, steht nah vor ihm, so nah, dass er sie küssen könnte. Sie schneidet vom Kragen bis zum Ärmel Sakko und Pullover auf, dann, wie ein Anatom, vom Hals bis zum Schritt Pullover und Hemd. Den Gürtel zurrt sie aus den Schlaufen seiner Hose. Er bewegt sich nicht. Er fühlt sich, als würde sie ihn töten. Er fühlt sich gut und frei. Von den Hüften bis zu den Beinöffnungen ritzt sie, mit etwas Mühe, als müsste sie zähe, ledrige Haut durchtrennen, seine Jeanshose auf, es dauert minutenlang, bis sie zu seinen Füßen hinunterfällt, sie ihm die Shorts wegschneiden kann, er nackt ist und immer noch regungslos in dem Haufen seiner unbrauchbar gewordenen Kleider steht, seinen Blick auf die dunklen Zuschauerköpfe gerichtet, von denen sich ab und zu einer bewegt; wenn der Mann oder die Frau (die meisten sind Frauen) sich nach vor beugt oder zurücklehnt oder den Kopf in eine Hand stützt oder die Beine übereinanderschlägt; es gibt sechs oder sieben Reihen, noch zählt er sie nicht; sechs oder sieben schütter besetzte Reihen, noch zählt er die Zuschauer nicht und versucht nicht, in ihren Gesichtern zu lesen. Sie beginnt, ihm das Haar vom Körper zu rasieren, an seiner Brust, seinen Achseln. Ein Schaben, ein Kitzeln und Kratzen auf seiner Haut, in der Berührung ihrer Finger ist keinerlei Zärtlichkeit. Er hatte gedacht, für jede Berührung eines anderen Menschen gibt es eine Ordnung, ein Schema, das sie begreifbar und gleichgültig macht; dann hatte er gedacht, es gibt all das wieder: die Erregung, den Kitzel, den Wahnsinn. Jetzt steht dieser Mensch, den er eigentlich kaum kennt, halbnackt vor seinem nackten Körper, fasst ihn an, wie ihn niemand, keine Frau und kein Mann je angefasst hat, und er begreift nichts und ist leer und gehört sich nicht. Wem gehörst du, du denkst, du gehörst niemandem, du denkst, du gehörst zu ihrer Schwester, das bildest du dir ein, du bist ein Bild, das zum Bild ihrer Schwester gehört, das Nichts eines Bildes.
Jetzt kannst du hoffen, dass die Bühne sich verwandelt, so wie einmal die Stadt sich verwandelt hat, an einem grauen Februarabend, für dich und tausende andere, wie sie sich vielleicht (nein, du bist dir sicher) für Mona verwandelt hat, in den Wochen ihres Spiels; dass sie sich öffnet, für wen, für diesen Mann, für dich, für die Zuschauer? Nein, für alle Lebenden und alle Toten, bescheidener darf man nicht sein, im entscheidenden Moment.
Ihre Bewegungen sind ganz langsam, fast nicht wahrnehmbar. Es ist, als würde sie mit den Fingernägeln oder vielmehr mit den bloßen Fingerkuppen eine bisher unbekannte Schicht von seiner Haut schälen; das Messer, fast unsichtbar, scheint jedoch scharf, und vielleicht rasiert sie nicht so gründlich, wie man glauben würde, es tut nicht weh, nicht einmal unter den Achseln, eher sind es Pinselstriche. Seine Haut wird niemals glatt sein wie die eines Kindes; aber er beginnt doch zurückzugleiten, wie unter eine Bemalung, sich zu fühlen wie ein Kind, mit glatter Haut, er darf die Augen nicht zumachen, aber wenn sein Bewusstsein weggleitet, dann sieht er sich im Garten nah an einer Wasserfläche, die es nicht gibt, auf einer Liege zwischen den Gesichtern der Mädchen, die es nicht mehr gibt, er sieht sich nackt über eine Wiese laufen, ein weißer Körper mit sanft hüpfendem kleinen weißen Geschlecht, ein haarloser weißer Körper im hohen Gras, vom Licht gestreichelt und gekitzelt, von einem sommerlichen Abendlicht, in einer Wiese, die es vielleicht nicht mehr gibt, nah an einem Haus, das es nicht mehr gibt. Sie hebt mit zwei Fingern seinen Penis an, und er weiß nicht, wie sie es schafft, ohne ihn zu verletzen, das Haar von seinen Hoden und den weichen Innenseiten seiner Schenkel zu rasieren, hat er Angst? Nein, er hat seltsamerweise gar keine Angst mehr, er fühlt ganz genau, was sie mit ihm anstellt, aber mit ausgeschaltetem Kopf oder mit einem Kopf, der anderswo abgelegt ist, es ist, als hätte jeder seiner Körperteile ein eigenes Bewusstsein, kein Wesensunterschied bestünde zwischen seinem Oberarm, seinem Geschlecht, dem Aderngeflecht in seiner Bauchdecke, seinem Gesicht; er ist eine Pflanze, in flüssiges Licht getaucht, er schwimmt im Licht, unter den unbestimmbaren Blicken der Menschen, unter den Blicken und Berührungen der Frau, der Schwester, ihrer Hände, ihres Messers, begehrenswert und rein. Dieser Körper hat sich in Form und in Wissen
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