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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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dem altbekannten, längst restaurierten (aber das interessiert dich jetzt gar nicht), öffnete er eine der Dosen und sah, dass der Film fest zusammengerollt war und kein loses Ende mit Leerfilm zum Einlegen in die Führung der Kamera herausstand. Er konnte gleich beginnen, Phantasien zu entwickeln: warum verwendete heute noch jemand analoge Kameras, warum versteckte er die Filme auf diese Weise oder versuchte auf diese Weise, sie loszuwerden, wer sollte sie hier in den kleinen Löchern in einer Hausmauer finden und wer nicht. Irgendeine Geschichte musste hinter dieser Sache stecken. Die Überlegungen, die er gleich anstellen wird, laufen alle in die Irre, es geht nicht um Spionage, nicht um Liebesintrigen und nicht um Pornographie. Dennoch, eine Geschichte (eine andere Wirklichkeit) gibt es; sobald er die entwickelten Filme in der Tasche hat, zweimal 36 (oder 37) Fotografien, wird er vor Bruchstücken dieser Geschichte stehen, an der ihm alles unverständlich sein wird außer dem Ende, das schreckliche Ende scheint sicher, an den letzten Fotos ist nichts mehr herumzuinterpretieren. Dann gibt es aber, zunächst ganz vage, auch noch etwas anderes als eine Geschichte: ein Muster unter dem Bild, schwarz im Schwarz oder weiß im Weiß, eine unmögliche Erinnerung, ein Wiedererkennen (eine andere Wirklichkeit, es geht nicht anders, einen Anfang).
    Mona öffnet nicht die Augen, weiß nicht, wie spät es ist, spürt, dass sie allein in der Wohnung ist, fragt sich, ob sie wach sein will. Sie versucht, in den Traum zurückzufinden, aus dem sie eben herausgefallen ist, eine Schranke hat sich davor geschoben, sie schaut auf die Schranke, das Schwarz, das Muster im Schwarz, ein schwarzes Muster im Schwarz. Sie schiebt die Decke von sich, muss aufs Klo, sie möchte etwas trinken, das heißt noch nicht, dass sie dem Tag erlaubt zu beginnen. Sie könnte eine Zigarette rauchen, eine Zigarette, die mit der letzten Zigarette von gestern, von der letzten Nacht in Verbindung steht, eine neue letzte Zigarette, sie schiebt die Decke von sich, tanzt barfuß in die Küche, öffnet den Kühlschrank (ein blen dendes Licht, vor dem sie die Augen zusammenkneift), schraubt den Tetrapack mit dem Orangensaft auf, schenkt sich ein Glas voll, auf dem Küchentisch stehen eine leere Kaffeetasse, ein leeres Glas, eine halbvolle Müslischale. Ihre Jacke hängt an einem Stuhl, die Taschen sind leer, sie trägt das Glas in ihr Zimmer, stellt es auf dem Boden neben ihrem Bett ab, kramt in den Taschen der Hose, die sie gestern, heute nacht ausgezogen hat, findet ein Feuerzeug, hält es in ihrer Handfläche. Sie schaut auf die Uhr, es ist zehn. Jemand weiß, dass sie hier ist, jemand an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Es gibt keinen anderen Ort, keine andere Zeit. Durch die Vorhänge kommt ein graugelbes Licht ins Zimmer, sie muss aufs Klo. Sie fröstelt. Schlafen, denkt sie, sie denkt, der Schlaf ruft mich, ein Satz, über den man lachen kann (alle Sätze sind zum Lachen).
    Er sperrte die Wohnungstür auf, horchte und war erleichtert, allein zu sein, er will Pre nichts von seinen Ausflügen erzählen, so als gehörten die Ausflüge nicht zu ihrem gemeinsamen Leben, er will ihr nichts erklären, jede Erklärung würde den Anfang, das kleine Spiel, das er mit sich spielt, zerstören. Die Räume waren hell, man konnte über den Parkettboden gehen fast ohne Geräusch, die Bücher warteten in den Regalen, seine Papiere auf dem Schreibtisch neben dem Laptop; sobald er allein in der Wohnung war, schien ihm all das zerbrechlicher, verletzbarer; an ihm allein würden die Räume, die Dinge nicht haften, er könnte sie nicht festhalten. Gleich als erstes nahm er die Filmdosen aus der Sakkotasche und versteckte sie in einer Schublade seines Schreibtisches, er ging zurück in den Vorraum und schlüpfte aus den Schuhen, nach der Jacke zog er sich gleich auch alle anderen Kleider aus, um eine Dusche zu nehmen; seine Kleider stopfte er, als müsste ihnen ein Geruch anhaften (der Geruch der Stadt, einer heimlichen Geliebten, der schmutzigen heimlichen Geliebten eines schmutzigen alten Mannes), in die Waschmaschine. Er stellte sich vor die Klomuschel, um zu pinkeln, du schaust dir vom Fenster her dabei zu, ein fast noch jung wirkender blasser maßvoll behaarter Männerkörper, der Bogen des Urinstrahls, jedes Ding kann für sich sein, was hält dich in deinem Körper. Er fühlte sich nackt, wie er sich vielleicht als Jugendlicher und als Kind nackt hatte fühlen

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