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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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vor der Tür, wen mag er besucht haben und warum (würde sie sich das auch fragen, fragt sie sich, wenn er kein Afrikaner wäre und wenn der Tag nicht der Tag der Regierungsangelobung wäre; wenn nicht an diesem Tag jede kleine Begegnung eine Bedeutung für sie haben müsste, in das Kraftfeld eingreifen, in dem sie sich bewegt; als bräuchte es Magie, um diesen Tag auszuhalten). Sie läuft zu Fuß in die Innenstadt und findet es empörend, dass da Autos sind, dass da Passanten sind; so als wäre jemand gestorben und das Leben liefe einfach weiter; das Leben darf nicht einfach weiterlaufen, wenn jemand stirbt. Der Afrikaner aus ihrem Haus, von dem sie immer nur den Rücken gesehen haben wird, geht sehr schnell, rennt beinahe, sie denkt, er wirkt wütend und wie jemand, der links und rechts von sich nichts mehr wahrnimmt. Eine Zeit lang sieht sie ihn noch, mit der vagen Hoffnung, sie könnten den gleichen Weg haben und sie könnte ihm, wirkungsvoller als durch ein stellvertreterheuchlerisches Lächeln und Grüßen, zeigen, auf welcher Seite sie steht, aber irgendwann verschwindet er in einer Seitengasse.
    In den letzten Tagen war es ihr schon tröstlich erschienen, dass es ab und zu Demonstrationen gab, heute, als sie zwischen den Demonstranten steht, ihre Freunde von der Uni neben sich, einen Sticker mit einem wie auf einem Verbotsschild durchgestrichenen Mascherl, dem Markenzeichen des neuen Kanzlers, dieses bösartigen Gnoms, an der Brust, es immer kälter wird, obwohl es an diesem Februartag nicht besonders kalt ist, findet sie es nur trostlos, in einer Menge von ein paar tausend Leuten einem unsichtbaren Feind hinter einem Polizeikordon gegenüberzustehen, die Simulation einer Schlacht, die niemals stattfinden wird. Die Polizisten tragen Schilde und martialische Vollvisierhelme, die sie in Maschinen verwandeln; ob auf dem Platz hinter ihnen irgendetwas vorgeht, ist nicht zu erkennen, Menschen, die wie Leibwächter, Menschen, die wie Sekretäre aussehen, tauchen in der Entfernung ab und zu auf und verschwinden bald wieder; dahinter stehen die Burg und das Palais des Kanzleramts mit ihren weißen Mauern so wie an allen anderen Tagen prachtvoll herum. Alles, was an Offiziellem stattfindet, findet hinter verschlossenen Türen statt, sie wird es später einmal im Fernsehen sehen, den Weg der Regierungsmitglieder durch einen unterirdischen Korridor in die Präsidentschaftskanzlei, die eisige Miene des Präsidenten, der einem nach dem anderen der grinsenden Kasperln die Hand schüttelt. Ein paar Eier und Orangen segeln durch die Luft. Grüne Luftballons pendeln über den Köpfen der Demonstranten; die Bäume auf den Rasenflächen sind kahl und gestutzt, mit knotigen Ästen, die wie geschwollene Gelenke ausschauen. Aus Lautsprechern an einem mit Transparenten beklebten VW-Bus dröhnen Bässe, unterbrochen von kleinen anfeuernden Slogans und Infos, von denen sie nur die Hälfte versteht. Durch den Lärm hindurch wie durch Watte tauscht sie dann und wann falsche Sätze mit den Freunden aus, warum ist sie immer noch sie selbst, steht schwerfällig unter den anderen, die pfeifen, trommeln, mit Schlüsseln rasseln, Parolen rufen: Widerstand, Widerstand ; ist das schon Widerstand oder wäre der Widerstand noch etwas ganz anderes, etwas, das sie mit ihrem eigenen Kopf gar nicht denken kann. Man muss sich dem Zustand ganz überlassen. Man müsste sich dem Zustand ganz überlassen. Spring, sagst du zu dem Pferd des Reiterdenkmals, das kaum noch mit den Hufen den Sockel berührt, wirf ihn ab, wer auch immer der Typ auf dir mit dem eingeklappten Sonnenschirm unter dem Arm ist. Auf der anderen Seite ist anscheinend alles vorbei und die Regierung im Amt, es ist an einem Stimmungswandel zu merken, der sich in schneller Strömung durch die Reihen der Demonstranten ausbreitet, vielleicht hat es auch eine unverständliche, gleich in Buhrufen untergegangene Lautsprecherdurchsage verkündet. Ihre Freunde (an deren Namen sie sich in wenigen Jahren nur noch mit Mühe erinnern wird) beginnen, darüber zu reden, in welches Café man jetzt gehen könnte, um eine Kleinigkeit zu essen, du findest das kläglich, das Eingeständnis einer Niederlage: du hast die ganze Zeit, statt einer Demo, ein Wunder erwartet, du hast erwartet, dass das ganze Gebäude aus Dummheit vor eurer bloßen Präsenz in sich zusammenkracht; dass diese Leute auf der anderen Seite plötzlich vor ihrer eigenen Gemeinheit und Leere erschrecken und zerbröseln wie trockner Sand;

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