Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
so wie sonst, ein So-tun-als-ob, eine lächerliche Imitation von Politik, all die Langweiligkeiten und die Eitelkeiten, über die sie sich früher immer aufgeregt hat. Was ist hier los, fragte sie sich, im letzten Frühjahr, als in den Tagen nach dem Tod des Schubhäftlings die größte Zeitung des Landes mit titelseitenfüllenden Meuchelfotos des bei seiner Abschiebung von Polizisten Ermordeten erschien (eines Negers, eines Wilden, wie ganz deutlich wurde, ohne dass es ausgesprochen werden musste), unter der Schlagzeile So tobte der Schubhäftling , und nichts, kein Hauch eines ernstzunehmenden Protests sich im Land regte und bei der kleinen Demonstration danach außer einigen Afrikanern nur die Leute zu finden waren, die bei allen Demonstrationen zu finden waren und für die schon egal war, worum es bei der Demonstration überhaupt ging; während in den liberalen Zeitungen nur die üblichen liberalen Kommentare erschienen und die letzten erträglichen Politiker nur ihre üblichen unerträglichen Stehsätze mit erträglichem Inhalt von sich gaben, was ist hier los, fragt sie sich jetzt, als die aus Rechtsradikalen und Opportunisten zusammengemischte neue Regierung unter der Führung zweier bösartiger Gnome und professioneller Lügner antritt und die Antwort der Öffent lichkeit bloß Fassungslosigkeit und Resignation ist, sie fühlt die Leere, Wut und Hilflosigkeit des Endes. Es ist ein Gefühl, mehr als nur etwas, das sie denkt; es ist mehr als ein Gefühl, es ist ein Zustand, der sie erfasst hat, etwas, dem sie, wenn sie einfach ihr normales Leben weiterführt, nicht entkommen kann. Für dich ist etwas zu Ende, nicht nur für dieses Land (du denkst das so, nicht nur ). Sie geht aus dem Haus, als würde sie sich ins Leere stürzen, nie mehr zurückkehren, ein Abstieg in die Welt, die es geben wird: als könnte die Wut sie forttreiben, direkt ins Nichts der Zukunft hinein. Jahre später, wenn sie längst eine andere geworden sein wird, wird sie sich noch an dieses Gefühl erinnern, die Leere, die Hilflosigkeit, die Wut, und wird es richtig finden, trotz allem, was folgt und was auf unklare Art mit den Ereignissen dieses Tages in Zusammenhang zu stehen scheint, sie läuft die Treppen hinunter, ins Grau, in die Kälte, in die Stadt hinein. Das Treppenhaus ist bis in ihre Schulterhöhe mit gelber Ölfarbe gestrichen, ihre Finger gleiten den Handlauf hinab, folgen seiner Krümmung. Jemand befindet sich unten beim Hauseingang, sie zögert.
Oben in der Wohnung, im Zimmer zur Hofseite, schläft Mona. Die Zimmertür steht einen Spalt weit offen, aber du hast nicht daran gedacht, sie zu wecken, du würdest selbst noch schlafen, würde es dich nicht auf die Straße ziehen, in die Stadt hinein, deren Häuser wie eine Horde von Feinden in der Landschaft stehen: es sind Semesterferien, ihr könntet euch treiben lassen, ach, mach dir doch keinen Kopf, sagt eure Mutter immer zu dir, mach es nicht wie dein Vater, genieß doch dein Leben, gerne, bitteschön, sagst du, aber muss ich dafür blöd und blind werden? Du wirst in der Innenstadt gleich mit den Freunden, die du noch hast, und mit Fremden zusammen sein, mit Leuten, von denen du glaubst oder zumindest aus der Ferne glauben kannst, sie seien so wie du, der gleiche Zustand hätte sie erfasst, wie viele werden es sein, du hast kaum Hoffnung. Du weißt, dass Mona anderes im Sinn hat, dass sie deine Wut womöglich sogar versteht, aber in ihrem eigenen Leben keinen Platz dafür hat oder haben will (darf, kann), diese Außenwelt, die Fernsehen und Zeitungen in die Köpfe pressen wollen, kümmert sie keinen Deut, und du verzeihst ihr, was du anderen Leuten nicht verzeihen würdest; du verstehst, was du bei anderen Leuten nicht verstehen wolltest, weil sie nichts mit diesen anderen Leuten zu tun hat, deine wilde kleine Schwester. Du glaubst sie zu verstehen, auch wenn ihr nie miteinander redet, immer nur Dinge sagt, von denen ihr wisst, dass sie für euch keine Bedeutung haben. Du weißt, dass sie bis zehn oder elf Uhr schlafen wird, dann kurz aufstehen, in die Küche tanzen, als würde der Schlaf noch in ihr tanzen, sie wird einen Orangensaft trinken, als wäre sie selbst für einen Moment nichts als das Trinken, wird auf der Tischplatte, in den Taschen ihrer Jacken und Hosen nach Zigaretten suchen, die Zigaretten vergessen, weil eben keine Zigaretten da sind (möchtest du nicht so leben, vergessen können, vergessen und vergessen, tanzen, vergessen? Wirst du es je schaffen, ohne
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