Regulator: Roman
Die anderen haben sich um David Carver geschart, aber Gary Soderson ist hierher gekommen, auf den Rasen des alten Doc. Mit seinem blassen Gesicht und dem hageren Körper sieht er aus, als leide er an Cholera im fortgeschrittenen Stadium. »Heilige Scheiße, Johnny! Ich sehe Leute, kleine, große, nicht aber ihre Unter-« »Halten Sie den Mund, Sie betrunkenes Arschloch«, sagt Johnny. Er schaut nach links und erblickt die Reed-Zwillinge und ihre Mutter, Kim Geller und ihre Tochter, plus eine Rothaarige, die er nicht kennt. Sie haben sich um David Carvers Leichnam versammelt wie Footballspieler um einen verletzten Mannschaftskameraden. Garys Kratzbürste von einer Frau ist ebenfalls dabei, aber sie hat Gary entdeckt und schlendert in die Richtung von chez Billingsley. Dann bleibt sie fasziniert stehen, als die Tür der Carvers aufgerissen wird und Kirstie in den Regen herausgeflogen kommt wie die Gouvernante in einem alten Schauerroman, und den Namen ihres Mannes kreischt, während Donner grollt und Blitze zucken.
Langsam, wie ein dummes Kind, das aufgefordert worden ist, etwas zu rezitieren, sagt Gary: » Wie haben Sie mich genannt?« Aber er sieht nicht Johnny an, nicht einmal die Menge auf dem Rasen der Carvers; er betrachtet, was der hochgerutschte Rock der Frau entblößt hat, und prägt es sich zur späteren Auswertung (und möglicherweise Konversation) ein. Plötzlich verspürt Johnny den fast unwiderstehlichen Wunsch, dem Mann eins auf die Nase zu geben. »Vergessen Sie's, halten Sie einfach nur den Mund. Das ist mein Ernst.« Er schaut nach rechts, die Straße hinunter, und sieht Collie Entragian auf sich zulaufen. Er scheint rosa Badesandalen zu tragen. Hinter ihm kommt ein langhaariger Mann, den Johnny noch nie vorher gesehen hat, und das neue Mädchen vom Markt - Cynthia heißt sie. Und hinter ihnen kommt der ortsansässige Experte in Sachen James Dickey und die neuen Südstaatenautoren, der mit wildem Blick dem alten Tom Billingsley davonläuft und Cynthia rasch einholt.
»Daddy!« Der durchdringende, trostlose Aufschrei eines kleinen Mädchens: Ellen Carver.
»Schafft die Kinder hier weg!« Brad Josephson, in strengem Kommandoton, Gott segne ihn, aber Johnny sieht nicht mal in seine Richtung. Peter Jackson kommt gelaufen, und es gibt etwas, das er noch viel weniger sehen sollte als er selbst und Gary Soderson, obwohl Peter es mit Sicherheit schon gesehen hat, sie aber nicht. Ein Rätsel für einen Englischlehrer, wenn es je eines gegeben hat. Eine andere irre alte Pointe schießt ihm durch den Kopf: He, Mister, Ihr Schild ist runtergefallen! Er kann sich nicht mal an den Scheißwitz erinnern, aus dem sie stammt. Er schaut sich noch einmal um und vergewissert sich, daß niemand außer Gary zu Mary hinsieht. Das ist ein Wunder, das sicher nicht mehr lange dauern wird. Er bückt sich, dreht Mary auf die Hüfte - wie schwer sie im Tod ist, denkt er, wie hundsgemein schwer -, und ihre Beine fallen zusammen. Wasser läuft an einem weißen Schenkel hinunter wie Regen an einem Grabstein. Er zieht den Rocksaum herunter, wobei er sich absichtlich so stellt, daß er den Leuten, die den Hügel hochkommen, den Rücken zudreht. Er kann Peter schon rufen hören: »Mary? Mary?« Natürlich wird er den Lumina gesehen haben, den Lumina, der mit der Schnauze an dem Lattenzaun steht. »Warum -« setzt Gary an, verstummt aber, als Johnny wütend aufschaut.
»Ein Wort, und ich schlage Ihnen die Nase platt«, sagte er. »Das ist mein Ernst.«
Gary sieht einen Moment ratlos aus - beinahe debil -, dann erhellt eine Art geiles Begreifen sein Gesicht, gefolgt von gespieltem Ernst. Er macht aber eine Geste, als würde er einen Reißverschluß über seine Lippen ziehen, und das ist gut. Auf lange Sicht wird Gary mit Sicherheit reden, aber die lange Sicht hat in Johnny Marinvilles Leben noch nie weniger eine Rolle gespielt.
Er dreht sich zum Haus der Carvers um und sieht Dave Reed, der die Tochter der Carvers - das Mädchen kreischt und strampelt mit weiten Scherenbewegungen mit den Beinen - zum Haus trägt. Törtchen Carver liegt auf den Knien und wimmert, wie Johnny vor all den Jahren die Frauen in den Dörfern von Vietnam wimmern gehört hat (aber mit dem Geruch von Pulverqualm in der Luft scheint es gar nicht so lange her zu sein), sie hat die Arme um den Hals des toten Mannes geschlungen, und Davids Kopf wackelt auf gräßliche Weise hin und her. Noch gräßlicher ist Ralphie, der kleine Junge, der neben ihr steht.
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