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Regulator: Roman

Regulator: Roman

Titel: Regulator: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Normalerweise ist er ein quirliger unermüdlicher Schreihals, ein kleines Arschgesicht der übelsten Sorte, aber jetzt sieht er aus wie eine Wachspuppe und starrt seinen toten Vater mit einem Gesicht an, das im Regen zu schmelzen scheint. Niemand bringt ihn weg, weil seine Schwester zur Abwechslung einmal den Lärm macht, aber jemand sollte ihn wegbringen.
    »Jim«, sagt Johnny zu dem anderen Reed-Bruder und geht zum Heck von Marys Wagen, damit er sich verständlich machen kann, ohne zu schreien. Der Junge schaut von dem toten Mann und der wimmernden Frau auf. Sein Gesicht wirkt benommen.
    »Bring Ralphie ins Haus, Jim. Er sollte nicht hier sein.« Jim nickt, schnappt sich den Jungen und geht mit ihm den Fußweg entlang. Johnny rechnet mit kreischenden Einwänden - schon mit sechs weiß Ralphie, daß es sein Schicksal ist, eines Tages die Welt zu beherrschen -, aber der Junge hängt nur wie eine Puppe mit großen, starren Augen in den Armen des Teenagers. Johnny glaubt, daß der Einfluß von Kindheitstraumata auf das Leben von Erwachsenen völlig überschätzt wird von einer Generation, die in ihrer Jugend zu viele Platten der Moody Blues gehört hat, aber bei etwas wie dem hier muß es anders sein; es wird lange dauern, denkt Johnny, bis der bestimmende Faktor von Ralph Carvers Verhalten nicht mehr der Anblick seines Vaters sein wird, der tot auf dem Rasen liegt, und seiner Mutter, die daneben im Regen kniet, die Hände unter seinem Nacken verschränkt, und immer wieder Daddys Namen schreit, als könnte sie ihn aufwecken. Er überlegt sich, ob er versuchen soll, Kirsten von dem Toten zu trennen - früher oder später muß es sein -, doch Collie Entragian erreicht das Haus von Billingsley, bevor er eingreifen kann, dicht gefolgt von der Verkäuferin aus dem E-Z Stop. Das Mädchen ist dem schwerkeuchenden Langhaarigen davongelaufen. Der Typ ist nicht so jung, wie er wegen seiner Rock-and-Roll-Haare von weitem ausgesehen hat. Am meisten ist Johnny von den Josephsons gefesselt. Sie stehen am Anfang der Carverschen Einfahrt und sehen im strömenden Regen geradezu wie eine SpikeLee-Version von Hansel und Gretel aus. Marielle Soderson geht an Johnny vorbei zu ihrem Mann auf dem Rasen von Billingsley. Johnny überlegt, wenn Brad und Belinda Josephson in Spike Lees neuem, nicht jugendfreiem Film Hansel und Gretel sein können, dann kann Marielle die Hexe spielen.
    Es ist wie im letzten Kapitel eines Romans von Agatha Christie, denkt er, wenn Miss Marple oder Hercule Poirot alles erklären, sogar, wie der Mörder nach vollbrachter Tat aus dem abgeschlossenen Schlafwagenabteil entkommen konnte. Wir sind alle hier, außer Frank Geller und Jack Reed, die noch bei der Arbeit sind. Ein richtiges Straßenfest. Aber, stellt er fest, das stimmt nicht ganz. Audrey Wyler ist nicht hier, und ihr Neffe auch nicht. Als ihm das auffällt, funkelt der Rand von etwas in seinem Kopf. Er erlebt eine blitzartige Erinnerung - das Geräusch eines erkälteten Kindes, hatte er gedacht -, aber bevor er mehr tun kann, als nach der Erinnerung zu greifen, weil er sehen will, in welchem Zusammenhang sie mit allem steht (es scheint einen Zusammenhang zu geben, weiß Gott, warum), kommt Collie Entragian zu Marys Auto und packt ihn mit einer tropfnassen Hand so fest an der Schulter, daß es weh tut. Er sieht an Johnny vorbei zum Haus der Carvers. »Was - zwei? - wie - Herrgott!«
    »Mr. Entragian ... Collie ...« Er versucht, gelassen zu klingen und keine Grimasse zu schneiden. »Sie brechen mir die Schulter.«
    »Oh. Entschuldigung, Mann. Aber -« Er sieht von der erschossenen Frau zu dem erschossenen Mann, David Carver, an dessen weißen, feisten Hüften das Blut in dünnen Rinnsalen herabfließt. Entragian kann sich nicht entscheiden, wen er anschauen soll, und sieht demzufolge wie ein Mann aus, der ein Tennisspiel verfolgt. »Ihr Hemd«, sagt Johnny und denkt, was für ein blödsinniger Auftakt für eine Unterhaltung das ist. »Sie haben vergessen, es anzuziehen.«
    »Ich hab mich rasiert«, antwortet Collie und streicht sich mit den Händen durch sein kurzes, tropfnasses Haar. Die Geste ist deutlicher Ausdruck - vielleicht gibt es keinen besseren - für einen Verstand, der die Verwirrung hinter sich gelassen und einen Zustand fast völliger Ratlosigkeit erreicht hat. Das findet Johnny seltsam liebenswert. »Mr. Marinville, haben Sie die geringste Ahnung, was hier vor sich geht?« Johnny schüttelt den Kopf. Er hofft nur, was immer es war, daß es

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