Regulator: Roman
als würde ihr Jans Besessenheit allmählich doch auf die Nerven gehen. Audrey stand am Eingang des Folly, sah die Wiese hinab bis zu der Steinmauer, lauschte dem Summen der Bienen und fragte sich, was sie eigentlich hier zu suchen hatte. Es gab Menschen, die Hilfe brauchten, Menschen, die sie kannte und, in den meisten Fällen, auch gern hatte. Ein Teil von ihr - und ein ziemlich überzeugender obendrein - versuchte ihr einzureden, daß diese Menschen keine Rolle spielten, daß sie sich nicht nur vierhundert Meilen westlich von hier aufhielten, sondern auch vierzehn Jahre in der Zukunft, aber das war eine Lüge, überzeugend oder nicht. Dieser Ort war die Illusion. Dieser Ort war die Lüge. Aber ich muß hier sein, dachte sie. Ich muß unbedingt hier sein.
Dennoch langweilte Janices Haßliebe zu Ray Soames sie plötzlich zu Tode. Sie fühlte sich versucht, auf den Absätzen herumzuwirbeln und zu sagen: Na gut, warum
hörst du nicht auf zu winseln und machst Schluß mit ihm? Du bist jung, du bist hübsch, du hast eine gute Figur. Ich bin sicher, du kannst jemanden mit gewaschenen Haaren und ohne Mundgeruch finden, der dir die Stellen kratzt, wo es am meisten juckt.
Wenn sie so etwas Abscheuliches zu Jan sagen würde, dann würde sie sie damit bestimmt von diesem Ort der Sicherheit vertreiben, wie Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben worden waren, weil sie den falschen Apfel gegessen hatten, aber das änderte nichts an ihren Empfindungen. Und wenn es ihr gelang, den Mund zu halten, was Jans Besessenheit betraf, was würde als nächstes kommen? Jans hundertundfünfzigste Versicherung, daß Paul zwar vielleicht der niedlichste von den Beatles sei, sie aber trotzdem nur ernsthaft in Erwägung ziehen würde, mit John ins Bett zu gehen?
Doch bevor sie etwas sagen oder tun konnte, drang ein neues Geräusch in diesen friedlichen Ort ein, wo sonst nur das Summen der Bienen, das Zirpen der Grillen im Gras und die murmelnden Stimmen zweier junger Frauen zu hören waren. Es war ein Klingeln, leise, aber irgendwie gebieterisch, wie die Glocke einer Schulmeisterin vergangener Zeiten, die die Schüler aus der Pause zurück in den Unterricht rief.
Sie drehte sich um, da Jans' Stimme verstummt war. Kein Wunder. Jan war nicht mehr da. Und auf dem gesplitterten Tisch mit den eingeritzten Initialen, die fast bis zum Ersten Weltkrieg zurückreichten, läutete das Tak-Phon. Zum erstenmal bei allen ihren Besuchen hier läutete das Tak-Phon.
Sie ging langsam darauf zu - mehr als drei kleine Schritte waren nicht erforderlich - und betrachtete es mit klopfendem Herzen. Ein Teil von ihr schrie auf, daß sie nicht antworten solle, daß sie wisse und immer gewußt habe, was das Läuten zu bedeuten hätte: Seths Dämon hatte sie gefunden. Aber was blieb ihr anderes übrig?
Lauf, schlug eine andere Stimme (möglicherweise die Stimme ihres eigenen Dämons) kalt vor. Lauf in diese Welt hinaus, Audrey. Den Berg hinab, so daß die Schmetterlinge vor dir in die Höhe flattern, über die Steinmauer und zur Straße auf der anderen Seite. Sie führt nach New Paltz, diese Straße, und es spielt keine Rolle, ob du den ganzen Tag laufen mußt und an beiden Fersen Blasen bekommst. Es ist eine College-Stadt, und irgendwo an der Main Street wird ein Schild - KELLNERIN GESUCHT - in einem Fenster stehen. Du kannst dich hocharbeiten. Los doch. Du bist jung, wieder Anfang Zwanzig, du bist gesund, siehst nicht schlecht aus, und dieser ganze Alptraum hat noch nicht mal angefangen.
Das konnte sie nicht tun ... oder doch? Schließlich war dies alles hier nicht real. Es war nur eine Zuflucht in ihrem Kopf.
Ring, ring, ring.
Leise, aber gebieterisch. Nimm mich ab, sagte es. Nimm mich ab, Audrey. Nimm mich ab, Partner. Wir müssen zur Ponderosa rüberreiten, aber diesmal wirst du nicht mehr zurückkommen.
Ring, ring, ring.
Sie bückte sich plötzlich und stützte die Hände auf beiden Seiten des kleinen Telefons auf. Sie spürte trockenes Holz unter ihren Handflächen, sie spürte die Schnörkel geschnitzter Initialen unter den Fingerspitzen, und ihr wurde klar, wenn sie sich in dieser Welt einen Splitter einziehen würde, würde sie bluten, wenn sie wieder in der anderen ankam. Denn diese Welt war real, sie war es, und Audrey wußte, wer sie geschaffen hatte. Seth hatte diese Zuflucht für sie gemacht, da war sie plötzlich ganz sicher. Er hatte diese Welt aus ihren, Audreys, besten Erinnerungen und süßesten Träumen gestrickt, hatte ihr eine
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