Reibereien
würdest Charlottes Mann sicher vorzie hen.«
»Ich ziehe überhaupt nichts vor. Stell dich nicht auf ihre Seite.«
Mein Liebesleben war seit vielen Jahren das reinste Chaos, aber das nahm ich in Kauf und machte es nur mir selbst zum Vorwurf. Das stand auf ei nem anderen Blatt. Aber es gefiel mir nicht, was Lili da für mich zusammenbraute, dieses schlei chende Mißtrauen, das sich zwischen uns ausbrei tete, und auch nicht die Haltung meiner Mutter, die Position gegen mich ergriff, seit sich meine Tochter immer mehr treiben ließ. Gemeinsam waren die beiden imstande, mich buchstäblich in die Zange zu nehmen. Mir wurde plötzlich klar, daß die eine die andere nach und nach abgelöst hatte. Ich fragte mich, wo ich unter diesen Umständen die Zeit für eine Frau hernehmen sollte. Aber das war etwas, das ich mir wohl an den Hut stecken konnte.
Meine Mutter meinte, Lili sei inzwischen erwachsen, doch eines Abends gegen elf klingelte das Telefon, ein Hilferuf. »Ich weiß nich t, was ich ha be. Ich blute überall.«
Sie weinte am anderen Ende der Leitung. Ich wollte wissen, wo genau sie blute, aber sie war nicht imstande, etwas Zusammenhängendes von sich zu geben. »Komm und hol mich ab«, jammerte sie.
Ich brachte schließlich aus ihr heraus, daß sie in einer Metrostation war, nicht weit von zu Hause entfernt.
Ich war überzeugt, jemand habe mit dem Messer auf sie eingestochen. Ich rannte die Straßen entlang, auf denen ein eisiger Wind wehte, und ein Bild ließ mich nicht los: Ich sah plötzlich meine Mutter wieder neben mir, wie sie in einem Krankenwagen mit dem Tod rang.
Es war so kalt, daß die Straßen fast menschenleer waren. Die Bürgersteige wurden noch von kleinen Häufchen grauen Schnees gesäumt, der hart wie Stein war. Ich war überzeugt, sie sei ange- griffen worden und zusammengebrochen.
Sie hielt sich das Kinn, zwischen ihren Fingern rann Blut. Jedenfalls freute sie sich, mich zu sehen.
Ich nahm sie in den Arm und suchte mit den Augen die Straße von oben bis unten nach einem Schatten oder einem Typen ab, der sich irgendwo versteckt hielt.
Sie machte einen völlig verstörten Eindruck. Sie behauptete, sie sei ausgerutscht, fand aber die vereiste Stelle nicht wieder. Da sie sich kaum auf den Beinen halten konnte und mit weitaufgerissenen erstaunten Augen auf die Straße blickte, fragte ich sie, was sie genommen habe, aber sie gab mir immer wieder zur Antwort, sie sei ausgerutscht.
Gegen ein Uhr morgens verließen wir das Krankenhaus, nachdem ihre Wunde mehrfach genäht worden war.
»Und niemand ist stehengeblieben«, erzählte sie mir. »Alle sind sie mir ausgewichen. Die hätten mich glatt abkratzen lassen.«
»Und so was passiert dir ausgerechnet jetzt«, sag te ich, »seit du meinst, du seist erwachsen. So was ist in den ganzen letzten Jahren nie passiert, und ausgerechnet jetzt passiert dir das. Findest du nicht, daß das ein seltsamer Zufall ist?«
Wir waren in der Küche und teilten uns ein Päckchen Chips. Ich erkannte die Sachen ihrer Mutter wieder, sie waren blutbefleckt.
»Erzähl doch keinen Stuß«, seufzte sie.
»Aber du mußt immerhin zugeben, daß ich wieder mal für dich da bin, wenn es dir dreckig geht. Dann habe ich doch auch wohl das Recht, mir Fragen zu stellen.«
»Dir worüber Fragen zu stellen?«
»Worüber?« wiederholte ich lächelnd.
Die letzten Schneereste verschwanden Mitte März. Die Dunkelheit brach nicht mehr mit der Ge schwindigkeit eines Fallbeils herein, und die Blät ter der Kastanien öffneten sich erstaunlich schnell. Die Tage wurden allmählich länger.
Ich war furchtbar enttäuscht, als ich den Sänger der Diablos traf. Er hatte inzwischen eine Glatze bekommen und war derart verbitten und derart gemein zu seiner Frau, daß ich meine Platten wieder mitnahm, ohne sie mir von ihm signieren zu lassen.
»Ich will nicht, daß dieser Typ in unsere Familie kommt«, erklärte ich. »Oder aber die Hochzeit findet ohne mich statt.«
Dann beschleunigten sich die Vorbereitungen.
Ich nutzte das allgemeine Durcheinander, um mich aufgrund der Situation an manchen Abenden in aller Seelenruhe besinnungslos zu besaufen. Ich war einer Macht begegnet, die stärker war als ich. Alle meine Bemerkungen waren vom Tisch gefegt, meine Vorbehalte übergangen worden, und ich war nur noch ein ohnmächtiger Beobachter dieser tickenden Höllenmaschine, dieser Dampfwalze totaler Verblendung und unglaublichen Starrsinns, auf der meine Tochter wie auf einem unbesiegbaren Feuer
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