Reibereien
Vater hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er begann sich wieder umzusehen.
Als er merkte, daß ich ihn ansah, sagte er zu mir: »Ich bin nicht schuld an diesem ganzen Scheiß. Zumindest nicht allein.« Und da er sich gerade zu mir herüberbeugte, sprang meine Mutter auf und entriß ihm die Tasche. Während er sich fluchend auf sei nem Stuhl aufrichtete und zusah, wie meine Mutter abhaute, rückte ich schnell meinen Stuhl zurück, damit er mich nicht festhalten konnte.
Die Cafeteria war zur Flughafenhalle hin völlig offen. Mein Vater und ich starrten meiner Mutter nach, die mit der Tasche unterm Arm fortrannte, und ich geriet bei diesem Anblick in Panik. Ich hätte sie am liebsten gerufen, aber ich kriegte kei nen Ton heraus. Mein Vater wandte sich mir zu. Ich wich zurück. Er knurrte: »Verdammte Scheiß e« und nahm das Bein vom Stuhl, als sei es schwer wie Bronze. Aber wie soll man eine Frau einholen, die mit gesenktem Kopf in Turnschuhen davonrast, wenn man ein steifes Bein hat und ein anstrengender Tag hinter einem liegt. Als sich unsere Blicke begegneten, begri ff ich, daß er das gleiche dachte wie ich. Ich sah, wie er vor ohnmächtiger Wut wankte. Wir hatten unsere Stühle umgeworfen. Wir fühlten uns beide sauelend.
Dann höre ich eine S ti mme, die meinen Namen rief. Und plötzlich füllten sich meine Lungen wie der mit Luft. Sie war hinten in der Halle, hatte haltgemacht und stand da wie an- gewurzelt. Sie drückte die Tasche an ihre Brust und wand sich nach links und rechts, um mich herbeizuwinken. Er sagte zu mir: »Bleib hier«, aber das hörte sich eher wie eine Bitte an. Das ließ mich zögern. Schließlich sahen wir uns nicht alle Tage.
» Was hast du denn bloß so lange gemacht?« fragte sie mich, als wir Seite an Seite in finsterer Nacht ins Freie kamen. Ich zuckte die Achseln.
Sie rief ein Taxi. Ich drehte mich um, und wäh rend wir uns entfernten, sah ich durchs Rückfen ster, wie mein Vater, der schwer das Bein nachzog, gerade erst den Ausgang erreicht ha tt e. Ich ver setzte mich an seine Stelle.
Meine Mutter war noch immer wie überdreht. Sie kaute an einem Fingernagel. Das Taxi fuhr laut los die fast leere, vom schwarzen Himmel gesäum te Autobahn entlang. Sie stellte die Tasche vor ihren Füßen auf den Boden. Nach einer Weile legte sie den Kopf an meine Schulter.
Und sie sagte: »Du mußt mir etwas versprechen. Unbedingt.«
Ich konnte mir denken, worum es ging.
Ich sagte zu ihr: »Ich verlasse dich nie.« Das war mir ganz von selbst herausgerutscht.
Sie schmiegte sich an mich.
»Das weiß ich«, flüsterte sie. »Ich weiß, daß du mir das nie antust.«
E ines Abends, ich bin fest davon überzeugt, daß sie in der Stadt ist, ruft sie mich plötzlich aus dreißig Kilometer Entfernung aus einer Telefonzelle an. Aus einem Kaff, von dem sie mir nicht mal den Namen nennen kann.
»Beruhig dich«, sage ich zu ihr. »Versuch dich zu konzentrieren.«
Ich fahre hin und hole sie ab. Ich bringe sie zu Bett, und dann kehre ich nach Hause zurück.
Es ist schon das dritte Mal in diesem Monat. Es wird früh dunkel, es ist kalt, und o ft hat sie kaum etwas am Leib, ich frage sie, wo ihr Mantel ist, aber sie hat keine Ahnung. Sie klammert sich an mich.
»Zieh doch wieder bei ihr ein,« sagt Utte mit einem geringschätzigen Lächeln.
Am nächsten Morgen fahre ich zu ihr, um zu sehen, wie es ihr geht.
»Ich bin schließlich deine Mutter«, sagt sie.
Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Ich reiche ihr die Hand, um sie aus dem Bett zu ziehen, aber sie weist meine Hilfe zurück. Sie ist zwei- undvier zig und wirkt zehn Jahre älter. Ich meine ihr Ge sicht, ihre aschgrauen auf- geschwemmten Züge, die in mir gemischte Gefühle hervorrufen — ich sehe nicht nur das Häßliche darin und bemühe mich verzweifelt, an etwas anderes zu denken.
Sie zündet sich eine Zigarette an und beklagt sich dabei doch tatsächlich über eine furchtbare Migrä ne. Ich lege ihr einen Morgenmantel über die Schultern. Sie dreht sich der Wand zu, zieht ihre Unterwäsche aus und wirft sie in eine Ecke.
Manchmal denke ich während der Arbeit an sie. An all das, was wir im Verlauf der letzten zehn Jah re gemeinsam in den Sand gesetzt haben - wenn man die Dinge mal ganz allgemein betrachtet. Ich denke an sie. Ich versuche mich an ihre Stelle zu versetzen. Sie erinnert mich an ein tollwütiges Tier. Und plötzlich
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