Reich der Schatten
machte er stets den Eindruck, als stünde er am Rande des Wahnsinns – als ob seine Erforschung der Gruft etwas Weltbewegendes wäre und seine Funde unser Bild vom Globus verändern würden!
Die Arbeiter waren müde, tief im Erdinnern, wo erst vor Kurzem die Fundamente der alten Kirche Saint Michel wiederentdeckt worden waren. Jean-Luc Beauvoir starrte den Professor mit seiner dicken Brille und dem wirren grauen Haar zornig an. Er biss sich auf die Lippen. Er und der Amerikaner, Brent Malone, waren seit Stunden hier drunten. Unermüdlich hatten sie die jahrhundertealten Erd- und Staubschichten um die Särge herum abgetragen. Professor Dubois rechnete mit einem unglaublichen archäologischen Fund. Er rechnete damit, für seine Ausgrabungen berühmt und mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft zu werden, und glaubte wohl, ein Vermögen zu machen mit einem Buch und mit Vorträgen über die Funde. Offenbar war es ihm gleichgültig, dass ihn die meisten Gelehrten für verrückt hielten und er nur mittels Bestechungen und einer stattlichen Spende an die aktive Kirche Saint Michel die Erlaubnis bekommen hatte, zu graben. Für die ausgebildeten archäologischen Mitarbeiter, die Dubois unbedingt haben wollte, hatte das Geld jedoch nicht mehr gereicht. So hatte er nur zwei Männer, die er ständig herumkommandieren und zwingen konnte, weiter zu schuften, obwohl es bereits auf Abend zuging. Der Amerikaner schien den Professor zwar mit einem einzigen Blick aus seinen seltsamen goldgesprenkelten, mal bräunlich, mal grünlich schimmernden Augen zum Stillschweigen zu bringen, aber es dauerte nicht lange und der alte Sklaventreiber fing wieder von vorne an.
Die Kirche, die in dem kleinen Dorf am Rand von Paris stand, war im sechzehnten Jahrhundert errichtet worden. Die Gruft unter den alten Ruinen aber, in der sie momentan schufteten, um sie zu erforschen und zu restaurieren, war gut dreihundert Jahre älter. Die Arbeit war tückisch, aber inzwischen waren sie schon so weit, dass Touristen für ein paar Euro dabei zuschauen konnten. Nun mussten sie also nicht nur den Professor aushalten, der sich ständig über ihre Schultern beugte und sie zu immer neuen, öden Plackereien antrieb, sondern auch noch die neugierigen Fremden, die ab und an hereingeschneit kamen und alberne Fragen stellten. Die Amerikaner zu ignorieren war nicht schwer, man musste nur so tun, als spreche man kein Englisch. Die Franzosen dagegen waren lästiger, mit ihnen unterhielt sich der Professor lang und breit, wenn er nicht gerade seine Arbeiter ermahnte, nicht so grob vorzugehen und womöglich Särge zu beschädigen, die Jahrhunderte überdauert hatten.
Jean-Luc blickte auf Brent und verdrehte die Augen. Soeben hatte eine junge Frau den Professor in ein Gespräch verwickelt. Nein, die Frau war nicht nur jung, sie war auch noch ausgesprochen attraktiv. Sie klang sehr gebildet und schien die Gegend und die Kirche zu kennen. Eine Amerikanerin, sie hatte definitiv einen amerikanischen Akzent. Trotz ihrer Neugier hatte ihre Stimme auch etwas ausgesprochen Freundliches und Charmantes. Der Professor war dafür nicht unempfänglich. Als sie sich über eine tiefe Grube beugte, um besser sehen zu können, hielt der alte Lustmolch die junge Frau fest, wohl auch, um wieder mal Frischfleisch in seine knochigen Hände zu bekommen.
Brent schien Jean-Lucs Blick entgangen zu sein, und auch die junge Frau schien er kaum zu bemerken. Gedankenverloren betrachtete er die Stelle, an der sie gerade arbeiteten. Hier gab es eine Verbindung zu den Gewölben der neuen Kirche, die aus einem Labyrinth von Grabkammern und Gängen bestand, in denen viele Adlige bestattet waren. Doch dieser Bereich hier, der von den neuen Fundamenten ziemlich weit entfernt lag, war im Stil und im Dekor anders. Es gab zwar die typischen gotischen Bogen, die sowohl der Statik als auch als architektonisches Beiwerk dienten, doch die Wände waren nicht nur mit dem Üblichen verziert, sondern auch mit allerlei ungewöhnlichen Dingen. Große Kreuze aus unterschiedlichen Metallen umgaben die Grabstätten, und daneben waren zahllose Dämonen und steinerne Fratzen zu sehen.
In der Nische, in der sie momentan arbeiteten, waren sie soeben auf ein Hindernis gestoßen. Jean-Luc war das klar, und dem Amerikaner ebenso. Während der Professor munter mit der jungen Frau plauderte, schenkte Brent Jean-Luc endlich seine volle Aufmerksamkeit. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Offenbar wollte er kundtun, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher