Reich der Schatten
dem Professor nicht sagen sollten, worauf sie soeben gestoßen waren.
Jean-Luc grinste; der Amerikaner war schlau. Sie waren kurz davor, einen Leichnam zu exhumieren, der vielleicht mit kostbaren Juwelen und Goldschmuck behängt war. Sollte der Professor ruhig seine Meriten einheimsen, sie würden sich die materiellen Werte unter den Nagel reißen.
Aber nun verzog der Amerikaner das Gesicht. Auch Jean-Luc verzog das Gesicht. Was hatte Brent vor?
Die junge Frau plauderte noch immer mit dem Professor, beobachtete dabei aber auch den Amerikaner bei der Arbeit in der Grabkammer. Warum auch nicht?, dachte Jean-Luc und zuckte die Schultern. Die Frau war jung, groß, schlank, elegant, sinnliche Kurven, schlanke Taille. Sie hatte lange blonde Haare und verdammt lange Beine, große, strahlende Augen, ebenmäßige Gesichtszüge und glatte, samtig schimmernde Haut. Professor Dubois war verschrumpelt wie eine Dörrpflaume und sah aus wie ein Pekinese, der einen Stromschlag abbekommen hatte. Der Amerikaner hingegen war groß und drahtig, er bewegte sich geschmeidig, und jedes Mal, wenn er mit einem Werkzeug hantierte, zeichneten sich unter der Kleidung seine durchtrainierten Muskeln ab. Er war wohl Ende zwanzig, Anfang dreißig; seine Augen schimmerten seltsam grünlich goldbraun, sein bis zur Schulter reichendes, dichtes Haar war sehr gepflegt. Meist trug er es zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Es war dunkel, fast schwarz. Bestimmt verführerisch für eine junge Frau. Es war doch immer und überall dasselbe: Frauen heirateten zwar oft einen Mann mit Intelligenz und Reichtum, aber wenn es um die Lust ging, neigten sie eher zu Männern mit einer ausgeprägten Körperlichkeit. Es war wohl ein animalischer Instinkt.
Doch der Amerikaner achtete kaum auf die ausgesprochene Schönheit seiner Landsmännin. Er tat, als würde er tiefer graben, arbeitete sich in Wahrheit aber nicht weiter zu den Schätzen vor, auf die sie möglicherweise gestoßen waren.
Jean-Luc hatte jedenfalls eine Pause eingelegt, und jetzt überlegte er, ob die Aufmerksamkeit der jungen Lady, die nach wie vor munter mit dem Professor plauderte, wohl eher dem Amerikaner oder der Ausgrabungsstätte galt.
»Professor!«, rief Brent, auf seine Schaufel gestützt, plötzlich laut und ungeduldig und unterbrach damit das Gespräch.
»Was ist denn?«, wollte Dubois wissen.
Der Amerikaner sah auf die Uhr. »Es ist schon spät. Wir sollten morgen früh weitermachen.«
»So spät ist es doch noch gar nicht. Wir sollten jetzt nicht aufhören. Ich habe die alten Pläne genau studiert: Wir müssten jetzt bald bei dem Grab angelangt sein.«
»Wenn Sie das Grab gefunden haben, das Ihnen so wichtig ist, dann wollen Sie die letzten Schichten Erde und Sand doch bestimmt von Fachleuten abtragen lassen. Um diese Zeit werden Sie die aber nicht mehr bekommen. Momentan haben wir hier nichts, was Grabräuber anlocken könnte. Wenn wir morgen früh weitermachen, haben Sie genug Zeit, Ihrer Entdeckung gerecht zu werden. Es ist jetzt kurz vor sieben. Wir haben schon genügend Überstunden gemacht. Die Kirche ist geschlossen. Wir müssen die junge Dame nach oben begleiten und für heute Schluss machen.«
»Oh, jetzt war ich aber lange hier unten«, rief die junge Frau. »Ich bitte um Verzeihung, aber ich finde das alles wirklich faszinierend.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, meine Liebe«, meinte Dubois.
Jean-Luc sah sich die junge Frau noch einmal genau an. Sie trug Jeans und einen Pulli und hübsche schwarze Mokassins, auf denen jetzt der Staub aus dem Reich der Toten lag. Ihre Kleidung war schlicht, doch sie betonte ihre hübschen Rundungen, die dem Professor sicher nicht entgangen waren. Ihr hellblondes, langes Haar war zu einem glatten, geschmeidigen Pferdeschwanz zurückgebunden, was ihre fein gemeißelten Gesichtszüge betonte. Ihre Augen wirkten in dem dämmrigen Licht und Schatten fast türkis, wie das Meer an der französischen Küste.
Kein Wunder, dass der alte Kauz gar nicht genug von ihr bekommen und so lange wie möglich an etwas so Schlichtem wie einem Gespräch festhalten wollte.
»Soll ich Ihren Gast nach draußen begleiten?«, fragte Brent schroff. Er starrte die Frau kühl an. »Sie sollte jetzt wirklich raus.«
»Ja, natürlich, man muss dafür sorgen, dass sie wohlbehütet nach draußen kommt. Sie machen jetzt hier fertig, und ich kümmere mich um die junge Dame«, meinte Dubois. »Sollen wir?«, fragte er.
»Ach, bitte, machen Sie sich keine
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