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Reich der Schatten

Reich der Schatten

Titel: Reich der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon Drake
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erwiderte Jean-Luc und hielt eine Hand hoch. Aber als er den Amerikaner in die Schatten verschwinden sah, die sich wie ein Mantel um ihn schlossen, regte sich in ihm plötzlich ein gewisser Unmut. Der Amerikaner wollte das Grab ausrauben, ohne dabei erwischt zu werden – ein guter, vernünftiger Plan. Aber der Amerikaner wollte sich auch die wertvollsten Gegenstände aus dem Sarg unter den Nagel reißen.
    Der Deckel war schon einen Spaltbreit offen. Ein Wunder, dass der Bursche das so leicht geschafft hatte. Selbst ein Kraftpaket wie ein Sumoringer hätte sich dafür ordentlich ins Zeug legen müssen.
    Jean-Luc starrte in die abgrundtiefe Dunkelheit des Ganges, der nach draußen führte. Brent war noch nicht auf dem Rückweg.
    Er schlich an den Platz, an dem sein Partner gestanden hatte. Er konnte einfach nicht widerstehen: Er hob den Sargdeckel an. Wieder erklang das markerschütternde Knirschen, als die jahrhundertealten Furniere nachgaben. Jean-Luc wappnete sich gegen den gespenstischen Anblick einer uralten Leiche. Inzwischen war er an Totenschädel gewöhnt, an aufgerissene Kiefer, die aussahen, als wären sie im letzten Protestschrei gegen den Tod erstarrt; an verrottete, graue, schimmlige Reste von Weichteilen; an Fetzen von Kleidung, löchrige Stiefel, durch die Knochenreste ragten – all das war nichts Neues für ihn.
    Dennoch stockte ihm der Atem, als er in den Sarg starrte. Es roch nicht nach Verwesung, es roch nicht einmal modrig wie sonst, wenn der Tod mehrere Jahrhunderte zurücklag. Es waren auch keine Knochen zu sehen. Er starrte auf …
    … auf Augen.
    Auf weit aufgerissene Augen, kohlschwarz, aber offen. Und diese Augen starrten ihn direkt an. Als ob die Leiche nie gestorben wäre, sondern nur geschlafen und gewartet hätte …
    Und dann …
    … bewegte sie sich.
    Jean-Luc stieß einen schrillen Schrei aus, so schrill, dass er nicht nur die Toten in Paris, sondern in ganz Frankreich hätte aufwecken können.
    Finsternis und tanzende Schatten erfüllten die Gruft. Die Schwärze des Grabs, das Licht der flackernden Lampen …
    … und das Scharlachrot von Blut.
    All das erfüllte nun die Gruft.
    Brent wollte gerade die unwillkommene Besucherin aufhalten, als der Schrei ertönte.
    Er fluchte halblaut, sauer auf sich und auf sie.
    »Mein Gott!«, ächzte sie.
    Die Frau war in die Gruft zurückgekehrt. Sie hatte sich an den modrigen Wänden entlang zurück zur Ausgrabungsstätte getastet. Warum? Wer zum Teufel war sie überhaupt? Was hatte sie hier zu suchen, an diesem Ort, hier und jetzt?
    Sie vergaß, sich zu verstecken, als Jean-Lucs gespenstischer Schrei wie das Kreischen der Verdammten durch die Gänge hallte.
    Nun schrie auch sie.
    Und schrie und schrie …
    Bis sie Brent sah, bis sie seine Augen sah.
    Ihr Schrei wurde so schrill wie der von Jean-Luc.
    Sie drehte sich um und wollte wegrennen.
    Zu spät …
    Oh ja, bei Gott.
    Es war viel zu spät.
    Noch nie in ihrem Leben hatte Tara so etwas wie diesen Schrei gehört, das noch immer von den Wänden der Katakomben widerzuhallen schien.
    Auf dem Rückweg durch die unterirdische Ruine hatte sie ein merkwürdiges Gefühl beschlichen: Sie dachte an all die Zeit, die hier verstrichen war, und empfand eine gewisse Trauer um all die Leben, die seitdem vergangen waren. Ja, es überkam sie sogar Ehrfurcht vor denen, die vor so langer Zeit gelebt hatten, und vor der gewaltigen Geschichte der Menschheit. Bei all den Gräbern war ihr ein wenig unbehaglich gewesen, aber sie hatte sich nicht gefürchtet. Auch die Finsternis und die Schatten hatten ihr keine Angst gemacht.
    Bis sie den Schrei hörte.
    In dem Zwielicht hier unten im Erdinnern schienen die steinernen Fratzen und Engel lebendig zu werden.
    Die Toten schienen Geräusche von sich zu geben.
    Die Wände schienen dunkler zu werden, näher zu rücken.
    Und dort, nicht weit von ihr, stand der Amerikaner. Ihn schien das Geräusch ebenso erschreckt zu haben wie sie.
    In dem Bruchteil einer Sekunde, als sie beide wie gelähmt waren von den Echos, die direkt aus der Hölle zu kommen schienen, und von dem Kreischen, das die Welt der Toten erfüllte, durchbohrte sie sein Blick.
    Er stand nur ein paar Meter von ihr entfernt. Offenbar hatte er gemerkt, dass sie eigene Pläne hatte und noch in den Katakomben war. Er wollte sie aufhalten.
    Er stand in einem Gang, den Grabnischen säumten. Das Licht war schwächer geworden, offenbar waren ein paar Glühbirnen durchgebrannt. Sein Gesicht in dieser Dunkelheit zu

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