Reich der Schatten
erkennen war unmöglich; sie sah nur seine Umrisse, die irgendwie bedrohlich wirkten. Ihr war klar, dass er sie zornig anstarrte, so zornig, dass sich ihre Nackenhaare sträubten. Sekunden verstrichen, wenige Sekunden nur, doch sie spürte, wie seine Spannung wuchs. Ein uralter Wind schien ihr vom Gang her entgegenzuwehen. Dieser Mann würde sie verfolgen und töten, er wollte ihr das antun, was in dem markerschütternden Schrei gelegen hatte, der noch immer von den steinernen Wänden widerzuhallen schien.
Aber er kam nicht auf sie zu.
Er drehte sich um und rannte an die Stelle zurück, von der der Schrei erklungen war. Er rannte, als ob sich dort ein Abgrund zur Hölle aufgetan hätte und er die daraus hochschlagenden Flammen ersticken könnte.
Eines wusste sie genau: Er hatte ihr Gesicht gesehen. Er hatte sich jede Kontur, jede Linie genau eingeprägt.
Vor ihm gab es kein Entkommen.
Sie drehte sich um und lief weg. So schnell, wie er Richtung Hölle gestürmt war, rannte sie davor weg. Sie hetzte durch die dunklen und engen Gänge, die seit Jahrhunderten die Toten beheimateten.
Durch die Dunkelheit, verzweifelt, fast blind vor Angst. Endlich sah sie die Stufen zur Kirche auftauchen. Sie stürmte hinauf. Die Stufen mündeten in den hinteren Bereich der Kirche. Sie rannte durch den Mittelgang, bis sie endlich am Ausgang angelangt war. Sie warf sich gegen das Portal, das hinausführte in die Normalität einer französischen Nacht.
Das Portal war verschlossen.
Brent kam sich vor, als würde er in zwei Teile gerissen. In dem winzigen Zeitraum, in dem er den Schrei gehört und die Frau angestarrt hatte, waren ihm Millionen von Gedanken durch den Kopf geschossen.
Wie idiotisch, Jean-Luc mit dem Sarg allein zu lassen!
Aber er hatte gewusst, dass die Frau noch in der Katakombe war und er sie fortschaffen musste. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er mit dem Grab recht hatte. Dass er den Ausgrabungsjob angenommen hatte, war eher eine Vorsichtsmaßnahme gewesen. Er wollte nur die vage Legende prüfen, die man sich seit vielen Jahrhunderten zuraunte, eine Gruselgeschichte, die sich Kinder in kalten Winternächten am Feuer erzählten.
Trotzdem hätte er es wissen müssen.
Die Frau war ganz schön schnell, trotz ihrer leichten Schuhe. Sie war ein Stück von ihm entfernt gewesen, und sie war davongerast wie ein Puma. Als er nun sinkenden Mutes zur Gruft zurückeilte, wurde ihm klar, dass diese Frau ihm noch viel Ärger machen würde.
Sie hatte den Schrei ebenso deutlich vernommen wie er, und niemand, der auch nur einen Funken Verstand, Instinkt oder Selbsterhaltungstrieb besaß, würde sich einreden können, dass der Laut von einer Eule stammte oder von einem Wolf, der in den fernen Wäldern den Mond anheulte.
Er fluchte halblaut.
Dieser Schrei …
Er hatte schon viel gehört und gesehen in seinem Leben, doch dieser Schrei, der noch immer in der Luft zu hängen und von den Wänden widerzuhallen schien, hatte sich in seiner Seele eingenistet.
Er fluchte auf sich selbst. Er hätte Jean-Luc inzwischen wahrhaftig besser kennen müssen. Der durch die uralten Gemäuer hallende Schrei zeugte davon, dass dieser Mann ein gieriger Trottel gewesen war und den Sarg geöffnet hatte.
Und dass die Legende stimmte.
Jean-Luc hatte den Preis für seine Gier bezahlt.
Brent rannte zurück zur Gruft, in der sie gearbeitet hatten. Aber dort war alles sehr rasch gegangen. Er kam zu spät, das wusste er natürlich. Zu spät für Jean-Luc. Immerhin hatte er noch die Hoffnung, dass es nicht zu spät war für andere Menschen.
Doch eigentlich war ihm klar, dass er auch dafür nicht mehr rechtzeitig kommen würde.
Die Lampen, die den Raum erhellt hatten, waren heruntergerissen und zerbrochen. Nur wenige brannten noch, doch ihr Licht war äußerst dürftig. Die Schatten hatten den Raum zurückerobert.
Brent fluchte noch immer auf sich, dass er Jean-Luc allein gelassen hatte.
Im Dämmerlicht bewegte er sich so leise wie möglich. Mit all seinen Sinnen versuchte er zu erspüren, ob sich hier noch etwas anderes bewegte. Doch obwohl er so vorsichtig war, wusste er, dass es keine Rolle spielte. In der Gruft war kein Leben mehr.
Hier war nichts mehr, was auch nur entfernt an Leben erinnerte. Selbst die Ratten hatten die Flucht ergriffen.
Er sah ausgezeichnet im Dunkeln. Vorbei an den Erd- und Steinhaufen sowie den Löchern, die sie gegraben hatten, fand er den Weg zurück an die letzte Grabungsstelle.
Er trat an den Rand des uralten
Weitere Kostenlose Bücher