Reich der Schatten
Grabes, an dem sie mit solcher Sorgfalt gearbeitet hatten.
In der Grube lag der Sarg mit offenem Deckel, doch der Sarg war leer. Jean Luc lag daneben. Brent beugte sich vor, betastete die Schultern, suchte nach einem Puls.
Der Kopf rollte zur Seite – er war vollkommen abgetrennt. Jean-Luc sah aus wie eine von einem zornigen Kind zerfetzte Puppe.
Brent suchte den Boden nach Flecken ab. Es gab keine großen Blutlachen, obwohl die Blutgefäße vollkommen durchtrennt worden waren.
Er stand mit geschlossenen Augen da und lauschte. Die Gruft war leer. Nicht einmal eine davonhuschende Ratte oder eine flüchtende Spinne war zu hören.
Dann aber …
… vernahm er etwas, ein Geräusch, das von oben an sein Ohr drang, von weit her.
Ein Klopfen. Er schloss die Augen wieder und lauschte. Es kam tatsächlich von weit her. Hier im Schoß der Erde war der nächste Laut fast nur ein Windhauch. Es war die Frau; sie schrie.
Die Gruft war leer.
Die, die im Sarg gelegen hatte, war verschwunden. Sie war lange eingesperrt gewesen und würde die neue Welt bestimmt sehr vorsichtig erobern, im Schutz der Nacht und der Schatten sehr behutsam erkunden.
Die Nacht war jung. Dennoch …
Er starrte auf Jean-Lucs sterbliche Überreste.
Sie hatte sich satt getrunken.
Vielleicht blieben ihm die Nacht und die ersten Stunden des nächsten Tages, um sie zu finden, bevor der Durst sie wieder überfiel.
Hier war nichts mehr zu tun, er konnte jetzt nur noch zusehen, dass er nicht verhaftet wurde. Brent drehte sich um und eilte den Weg zurück, den er vorher gekommen war. Er bewegte sich lautlos.
Plötzlich fiel sein Blick auf eine vor ihm liegende Tasche, eine kleine lederne Umhängetasche. Sie gehörte bestimmt der Frau, die vorhin so lästig gewesen war. Er kniete sich hin und untersuchte ungeniert den Inhalt. Sie hatte behauptet, sie heiße Geneviève Marceau – das war gelogen. In Wirklichkeit hieß sie Tara Adair. Er betrachtete ihren Pass, die anderen Ausweispapiere, den Inhalt ihres Geldbeutels. Schließlich stopfte er alles in die Tasche zurück und steckte sie in die große Tasche, die wie bei einem Handwerkeroverall auf dem Oberschenkel seiner Jeans aufgenäht war.
Offenbar hatte sie den Verlust nicht bemerkt.
Oder sie hatte ihn bemerkt, aber es war ihr gleichgültig gewesen.
Sie hatte blindlings die Flucht ergriffen. Kein Wunder – das hätte jeder getan, der das blanke Entsetzen in Jean-Lucs Schrei hörte.
Aber was zum Teufel hatte sie hier überhaupt zu suchen? Was wusste sie? Wichtiger noch – wer war sie, und warum war sie so plötzlich aufgetaucht und hatte Professor Dubois ausgefragt? Und warum hatte sie sich versteckt, nachdem sie angekündigt hatte, dass sie gehen würde?
Ihr Name sagte ihm nichts. Adair … hatte er jemals eine Person dieses Namens gekannt?
Und dennoch …
Er blieb stehen und drehte sich um. Die Frau hämmerte noch immer an die Tür und schrie.
In ihrer Handtasche war ein Handy gewesen.
Vielleicht merkte sie in diesem Moment, dass sie die Tasche verloren hatte.
Er zog das Handy heraus, suchte nach der letzten gewählten Nummer, prägte sie sich ein. Dann suchte er die Tasche noch einmal nach einem Hinweis ab, woher diese Frau kam und wo sie lebte.
Sie war aus New York gekommen, so viel wusste er. Heute Morgen.
Dennoch war ihr Französisch ganz ordentlich. Abgesehen von einem grässlichen Akzent und gelegentlichen Unsicherheiten beherrschte sie die Sprache recht gut.
Schließlich stieß er in ihrer Brieftasche auf einen Gepäckschein mit einer New Yorker Adresse. Offenbar lebte die Frau in der Upper East Side. Aber auch eine Adresse in dem kleinen Dorf am Rand von Paris war vermerkt.
Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Ihm war, als kenne er dieses Haus.
Von früher …
Schließlich richtete er sich auf und ging weiter. Er musste diese Frau erwischen. So oder so – selbst wenn jemand vor ihm das Kirchenportal erreichen sollte.
Es gab keine andere Möglichkeit; er musste sie verfolgen und aufhalten.
Aber zuallererst musste er herausbekommen, was sie in der Gruft gesucht hatte.
Der Mann kam kurz nach Einbruch der Dämmerung in das Café.
In modischer Freizeitkleidung saß er da, selbstsicher wie immer. Manchmal beachtete er seine Umgebung überhaupt nicht, manchmal aber hatte er auch ein Lächeln für eine der Bedienungen übrig. Jemanden wie ihn sprach man nicht von sich aus an, aber er hatte nichts gegen einen kleinen Plausch mit Fremden, wenn sich die Gelegenheit dazu bot,
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