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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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Sohn wäre, wenn seine Mutter damit zu fahren verstünde. Eine völlig blödsinnige Bemerkung, die ihr aber wie Honig die Kehle runterging.
    Am Tag darauf traf ich sie in ihrem Rollstuhl sitzend an, ein wenig erhöht, so wie man eben auf diesen Dingern sitzt. Ohne auch nur einmal Luft zu holen, sprudelte sie hervor: »Auf dich kann man sich verlassen. Du tust nur Gutes. In dir schlummert kein Funke Bosheit. Du warst dein Leben lang darum bestrebt, anderen gefällig zu sein. Ich hoffe, dass die Liebe dir keinen Kummer verursacht. Lass dir nicht zu viele graue Haare wachsen wegen deiner Mutter, die ist zäh. Vielleicht fange ich ja an zu beten. Oh, nicht für mich. Ich bin nicht scharf darauf, dass Gott auf mich aufmerksam wird, das habe ich dir ja bereits gesagt. Aber falls es einen Gott gibt, dessen Augenmerk man erregen kann, so wäre mir lieb, dass er seinen Blick auf dich richtet. Wenn ein Gott noch ­etwas tun kann, so für dich, meine Liebe.«

M an erkundigt sich, wie es mir geht, und ich ­erzähle daraufhin, wie es meiner Mutter geht. Dann in dem Café in der Nähe der Bastille der Freund, der mich versteht. Er ist außerordentlich intelligent, wenn denn Intelligenz hierbei überhaupt etwas zur Sache tut. Er musste selbst vor einigen Jahren miterleben, wie sein Kind zwischen Leben und Tod schwebte. Vielleicht rührt seine Fähigkeit, sich in mich hineinzuversetzen, ja auch eher daher, nämlich von dem Umstand, dass er fürchtete, ein geliebtes Wesen zu verlieren, dass er selbst verging vor Kummer über das Schicksal eines anderen Menschen. Er lehrt Philosophie. Als ich von meiner Mutter spreche, schlägt er die Lider unendlich zärtlich nieder und zitiert mir einen Satz von Vladimir Jankélévitch über das Alter und den Tod: »Wir schieben von uns weg, was sich nicht wegschieben lässt.«
    Diese schockierende Wahrheit, die mir förmlich die Luft abschnürt, auf diese Weise beim Namen genannt zu hören, bewegt mich dazu zu offenbaren, was ich den anderen Freunden gegenüber verschweige. Nämlich die Frage, ob ich das durchstehen werde. Die Tatsache, dass ich abends am ganzen Körper Muskelkater habe. Mir tut wirklich alles weh, selbst die Nägel. Und in letzter Zeit scheint mein Körper das Alter meiner Mutter plus das meine zu haben, sprich, ich bin gefühlte einhundertdreiunddreißig Jahre alt. Morgens kann ich nicht mehr richtig auftreten, denn natürlich habe ich meinen schwachen Punkt, wie jeder Achill, wie jeder, der sich auf ein Unterfangen einlässt, das ihn überfordert. Andererseits bin ich wohl oder übel gezwungen, zur Heldin zu mutieren, wenn ich den Tod fernhalten will. Meinem Freund erzähle ich von der Bestürzung darüber, dass meine Mutter wieder zum kleinen Kind wird, dem man gut zuredet, das man betreut, mit Nahrung versorgt, liebkost und mit frischen Windeln versieht. Aber auch von dem Phänomen, das einen in gewisser Weise über alles hinwegtröstet, nämlich dass man mit dieser altersschwachen Mutter tun und lassen kann, was man will. Nur eins kann man nicht, nämlich ihre Vitalität wiederherstellen. Ich, die ich selbst keine Kinder habe, werde nicht müde zu wiederholen: »Sie ist wie ein Kind … Sie ist wie ein Kind.« Aber dieser Mann, der im Gegensatz zu mir ein Kind hat und es um ein Haar verloren hätte, erklärt mir: »Nein. Das kann man nicht vergleichen. Denn, weißt du, bei einem Kind besteht deine Aufgabe darin, es aus der Abhängigkeit herauszuführen. Ja, es ist mehr als eine Aufgabe, es ist eine regelrechte Mission. Oder, wenn ich es recht bedenke, ist es sogar noch mehr als eine Mission, es ist die Zukunft selbst. Ein Kind ist ein Mensch, den man dazu anleitet, auf eigenen Füßen zu stehen. Es wird eines ­Tages fortgehen, um sein eigenes Leben zu leben. Es hat gute Aussichten zu leben, selbst wenn es krank ist, selbst wenn es schlecht zurechtkommt. Du kannst daran glauben. Bis zum Ende kannst du dir sagen, dass es über den Berg ist, wenn es geheilt wird, dass es über den Berg ist, wenn es sein Abi bestanden hat, dass es über den Berg ist, wenn es ihm gelingt, eine Beziehung einzugehen. Wohin begleitest du hingegen deine Mutter? Die Unabhängigkeit, die am Ende wartet, ist deine eigene. Bis zum Schluss wirst du das Kind sein, wirst du von deiner Mutter zur Autonomie angeleitet. Die Mutter ist immer noch sie. Lass dich darauf ein, dass dein Leben auf den Kopf gestellt wird, denn, meine Liebe, was sie da gerade tut, ist, deine Erziehung zu vollenden.«

S ie mustert

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