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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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mich aufmerksam. Das ist die Fortsetzung der Erziehung, von der mein Freund sprach. Und für den Fall, dass dieser Freund recht haben sollte, lasse ich zu, dass meine Mutter ihre Arbeit an mir fortsetzt und letzte Hand anlegt an dem Werk, das ihr vorschwebt. Ja, noch besser: Ich, von der es einst hieß, sie stelle zu hohe Ansprüche, bin es jetzt nicht zufrieden, zu viel verlangt zu haben vom Leben, und hänge dank ihr die Messlatte noch eine Stufe ­höher. Denn ich begreife, dass dies von nun an die Perspektive der Liebe sein wird. So wie sie mich jetzt sieht. Halbe ­Sachen interessieren mich in jüngerer Zeit nicht mehr.
    Ich habe den Blick meiner Mutter gefürchtet – als Kind, und weit über meine Jugendzeit hinaus, während meiner ersten Gehversuche als Frau, ja im Grunde die ganze Zeit über. Meine Güte, wie habe ich ihn gefürchtet. Ich ging sie besuchen, und mein Gesicht zerfiel förmlich in seine Einzelteile, sobald ich im Aufzug in den Spiegel schaute. Was hätte sie wohl diesmal wieder an kritischen Bemerkungen parat? Dass ich ganz in Schwarz gekleidet war. Dass ich die Haare aus der Stirn nehmen solle. Dass ich ruhig einmal ein wenig Rouge auflegen könnte. Dass ich zu selten lächelte, worauf sie sogleich ihr engelhaftes Lächeln zeigte, um mir mit gu tem Beispiel voranzugehen; doch ich erfasste nicht seine Schönheit, sondern interpretierte es als gegen mich gerichtet. Oder es geschah auch, dass sie, mit mir allein im Zimmer, mit ­ei nem imaginären Gesprächspartner zu plaudern begann. »Meine Tochter kauft sich in einem fort Klamotten, ist aber immer gleich angezogen.« Im Urlaub hörte ich einmal, wie eine Mutter hingerissen vor ihrer Tochter stand und ausrief: »Du bist wunderschön! Wirklich wunderschön!« Das versetzte mir einen schmerzlichen Stich. Die Vorstellungen meiner Mutter bezüglich Schönheit und all dem, was sonst noch so von Bedeutung ist, lassen sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Nur was außergewöhnlich ist, zählt. Ach, ich hätte meine hervorragenden Schulnoten, mein Formulierungstalent, meine Fähigkeiten auf dem Gebiet des Hochsprungs, meine Gabe, in der Öffentlichkeit zu sprechen, dafür gegeben, schön zu sein. Und wenn es mir einer sagte, dieser Jemand aber nicht meine Mutter war, so hatte ich das Gefühl, es sei nur so oberflächlich dahingesagt, ein reines Almosen. Oder es war gar ironisch gemeint, wer weiß?
    Neulich legte ein Mann seine Hand auf meine Wange, und ich fand das normal. Ich mache Fortschritte.

M it vierunddreißig Jahren hat Leila fünf ältere Menschen, Männer und Frauen, in ihrer Obhut, die sie wie einen Wurf junger Hunde umsorgt. Am Morgen geht sie von einem Haus zum nächsten, um sie zu waschen und zu kämmen. Einigen von ihnen bereitet sie die Mahlzeiten zu. Für manche ist sie das letzte lebende Gegenüber auf Erden. Die Männer vertrauen ihr an, dass ihr Begehren erloschen ist. Die Frauen, dass ihr Egoismus erwacht. Sie adoptiert meine Mutter binnen weniger Minuten als weiteren Schützling, als sie sie auszieht. In der ersten Zeit ist es so rührend, diese Frau – meine Mutter – zu sehen, die wirkt, als betrachte sie ihre eigene Nacktheit von außen, wenn sie zaghaft zu einer ihr unbekannten Person aufblickt. »Weshalb tun Sie das?«, fragte sie Leila am Anfang einmal, höchst erstaunt, dass sich da einer um sie kümmern wollte. Ich hörte, wie Leila erwiderte: »Ich liebe meinen Beruf.«
    Und es stimmt, sie liebt die Freiheit, zu kommen und zu gehen, aber auch das Engagement und die Treue.
    Sie hat studiert, war im Versicherungsgeschäft tätig, hat sich ihr eigenes kleines Unternehmen aufgebaut und Bankrott gemacht. Eines schönen Tages will es das Schicksal – denn nur dies allein führt einen dorthin –, dass sie vor ihrem ersten älteren Schützling steht. Sie erklärt sich bereit, einem Freund, der sich von Berufs wegen um alte Menschen kümmert, aus der Klemme zu helfen. Sie ist dafür begabt. Hat keine Scheu, die Leute zu berühren. Der Körper eines anderen Menschen ist für sie nicht abstoßend. Bald schon kann sie gut davon leben. Sie lernt es, Abstand zu wahren. Lernt aber auch die grundlegenden Tricks und Kniffe, mit denen man Nähe herstellt. Sie nennt alle Frauen »meine Große«, alle Männer »mein Großer«. Und nie antwortet einer: »Solche Mätzchen können Sie sich bei mir bitte sparen.« Sie sagt, das sei das Kind in uns, dessen Mut schwinde und dessen Kräfte nachlassen, nicht der perfekte Erwachsene, der

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