Reifezeit
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»Guten Tag, hier spricht Marie, die Cousine deiner Mutter«, melden sie sich bei mir. »Hier ist die Freundin aus Goussonville.« »Hier ist Geneviève.« Sie sind alles andere als gelassen. Denn sie werden von tausend Ängsten umgetrieben, diese Altersgenossinnen meiner Mutter: von der Angst, schlechte Neuigkeiten zu erfahren, der Angst, mir mit ihrer liebevollen Besorgtheit zur Last zu fallen, der Angst, die Jugend bei den Tätigkeiten zu stören, die dieser heilig sind; auch von der Angst einzugestehen, dass sie unfähig sind zu helfen, da sie selbst meist nicht mehr in der Lage sind, das Haus zu verlassen; von der Angst, mich darum zu bitten, das Gesagte zu wiederholen, weil sie es nicht richtig verstanden haben, der Angst, sich über Gebühr wichtig zu machen. Sie hören mir zu, wenn ich über das Befinden meiner Mutter berichte. Sie sagen nur »Ach ja, ach ja …« zu meinen sachkundigen Ausführungen zum Thema Krankenhaus, Anämie, Osteoporose, Tachykardie und Arrhythmie – lauter Phänomene, von denen sie ein Lied zu singen wissen, selbst wenn ihnen die Begriffe reichlich kryptisch erscheinen und sie zuweilen, sprachlich auf der Höhe der Zeit, wie sie sind, einräumen: »Also, davon habe ich keinen Plan.« Ich vergesse meinen anstrengenden Tag. Ich sammle mich innerlich: So wie man eine halbleere Tube zusammendrückt, quetsche ich noch etwas aus mir heraus, was sie beruhigen könnte. Sie sagen »Danke für alles«, und ich interpretiere es als »Danke für alle«. Man muss sie gehört haben, diese Stimmen, die schon im Aufbruch begriffen sind in eine andere Welt, man muss mit ihnen gezittert haben, muss die panische Angst nachempfunden haben, die sie in ihrem hohen Alter darüber verspüren, dass sie ein- und derselben Welle, ein- und derselben Generation angehören und nun zusehen müssen, wie die Reihen sich lichten.
Und trotzdem ist es so: Die zärtliche Fürsorge, die mir von ihnen zuteilwird, lindert die schmerzliche Last auf meinem Rücken. Sie sind immer noch dazu imstande, Gutes zu tun, die liebenswerten Verängstigten vom Volke der alten Damen; sie sind imstande, mir dies spezielle Gefühl der Verbunden heit zu vermitteln, das Frauen untereinander haben. Sie schaffen es, dass ich dahinschmelze. Die Verhärtungen, die sich im Laufe des Tages in mir gebildet haben, lösen sich, weil mich ihre rührende Art zu hoffen mit Hochachtung erfüllt.
I ch habe besonders feine Antennen im Hinblick auf alte Menschen entwickelt. Ist das eine Bereicherung? Macht mich diese neue Sichtweise, die mich das Ende gleichsam durch ein Vergrößerungsglas betrachten lässt, offen für bislang verkannte Werte? Wenn ich eine humpelnde alte Dame auf der Straße erspähe, ist es um mich geschehen: Nichts kann mich mehr davon ablenken, weder ein attraktiv dekoriertes Schaufenster noch der Star, der dort Gestalt an nehmen würde. Ich bin wie die Eltern, die um die grundlegenden Bedürfnisse eines Kindes wissen und sich wundern, dass das Kind der anderen um zwei Uhr morgens noch nicht schläft, sondern überreizt und bleich zwischen den Cafétischen umherstolpert. Und genau wie sie sage ich mir: »Was macht das denn noch da? Das hat doch hier nichts mehr verloren.«
Ja, was macht sie da, diese Frau, die sich an ihrem Einkaufswagen festklammert, nachdem sie spät, als schon wieder eingepackt wird, noch auf dem Markt erschienen ist, um beiseitegeworfenes Obst und Gemüse vom Boden aufzu lesen? Sie gerät gefährlich ins Wanken, als sie sich nach einer aufgeplatzten Melone bückt.
Was tut sie da, diese winzig kleine Passantin, die gerade von einem vorbeischießenden Tretroller überholt wird? Jetzt erschrickt sie heftig, stützt sich keuchend auf ihren Stock, während die Mutter des Kindes auf dem Tretroller, die es brandeilig hat, schreit: »Fahr nicht so schnell, Ben, du fällst sonst noch hin!« Die Mutter bemerkt gar nicht, dass ihr Kind gerade selbst eine Bedrohung darstellt.
Was tut sie da, die Frau, die da vor mir in der Notaufnahme liegt? Alterslos, mit fleckiger Haut und herben Zügen, von der gleichen rauen Schönheit wie die isländische Natur. Sie wollte ihrer viel beschäftigten Familie wohl keine Umstände bereiten, liegt einsam und alleine auf der Tragbahre und wartet, ihre Tasche auf der Schamgegend platziert. Sie reicht die Tasche dem Pflegepersonal, das sich um die Aufnahmeformalitäten kümmert: »Da ist alles drin.«
Was tut meine Nachbarin da, als ich
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