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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Fontanel
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den Widrigkeiten des Lebens bis in den Tod die Stirn biete. Das Kind im älteren Menschen müsse man mit lobenden Worten aufmuntern. Und es funktioniert, sie richtet die umhätschelten Personen auf. Die, die nur noch dalagen, bringt sie dazu, sich aufzusetzen. Die, die nur noch dasaßen, bringt sie dazu aufzustehen. Und denjenigen, denen sie auf die Füße geholfen hat, bringt sie wieder bei zu laufen. Wunder über Wunder, bis hin zu meiner Mutter, die sich nur noch schwankend auf den Beinen halten kann. Sie vollbringt, was ich nicht zu leisten vermag. Denn gleitet meine Mutter mir aus den Händen, so werden die Eltern-Kind-Gesetze zur Schwerkraft wirksam, und ich neige dazu, mit ihr zu Boden zu gehen. Und wer weiß, ob ich dabei nicht auf sie falle?

E ines Tages treffe ich ein, als Leila meiner Mutter gerade bei der Morgentoilette behilflich ist. Unwillkürlich gerate ich in Verlegenheit, eine über lange Jahre eingeschliffene Reaktion auf die Schamhaftigkeit meiner Mutter. Bei uns zu Hause zeigte keiner je seinen bloßen Körper. Und nun sitzt sie da nackt auf ihrem Bett, mit seifenglitzerndem Leib und locker baumelnden Armen, die Leila einen nach dem anderen hochnimmt. Sie machen sich gemeinsam über die Feigheit der Männer lustig. Meine Mutter lacht. Die Sonne scheint ihr auf den Busen und die Seite, und sie blickt mir ­offen und ungeniert in die Augen, während sie die Zehen spreizt, die den Boden nicht berühren, als sei dies die Art und Weise, in der man sich von nun an, im neu entdeckten Reich des fröhlichen Nacktseins, begrüßt. Sie ist so vollkommen glücklich, diese Frau, die sich davor fürchtete, von anderen abhängig zu sein – ich bin schlicht baff. Sie und Leila lassen sich gerade darüber aus, wie merkwürdig es doch in Anbetracht der mangelnden Courage der Männer sei, dass diese Kriege führen. Meine Mutter fügt hinzu, noch erstaunlicher sei der Umstand, dass nicht die Frauen es seien, die die Befehle erteilten, wo doch die Männer eine drollige Neigung dazu hätten, den Frauen zu gehorchen. Und dann wiederum meine Mutter, die mit Bestimmtheit erklärt, dass die Männer selbstverständlich nicht in den Krieg zögen, weil es in ihrer Natur liege, sondern deshalb, weil man sie andernfalls töte. Sie schließt: Die Männer tun alles, was man will – wenn man ihnen keine andere Wahl lässt.
    Ein Thema, das sie veranlasst, auf mich loszugehen. ­Warum schreibe ich, die ich doch so gewieft bin, nicht in meiner Zeitung, dass die Frau diejenige ist, die dem Mann Macht verleiht, denn ohne sie käme er so verzweifelt ins Rudern wie ein kleiner, seiner Schwimmreifen beraubter Steppke. Mir ist klar, dass sie weder von ihrem geliebten Goldsohn noch von den von ihr vergötterten Enkeln spricht, sondern von dem Mann, den sie als Liebende in den Armen hielt. Möglicherweise spricht sie dabei aber gar nicht so sehr von meinem Vater. Das ist die Lektion, die ich hier, vor meiner nackten Mutter, erteilt bekomme. Ihr Körper, der fortlebt, der sich von der Mutterschaft lossagt, um einer so ausgelassenen Schalkhaftigkeit zu frönen und zugleich so unverblümt die Wahrheit zu enthüllen, ihr Körper, der wie ein offenes Buch ist, ja, das ist wohl das Erhabenste, was ich auf dieser Welt je zu sehen bekommen werde. Ich entdecke das, was sich einem darbietet, sobald man keine Flaschenpost mehr aufs Meer hinausschickt, sondern vielmehr selbst das ist, was, um so manche Bürde erleichtert, auf hoher See treibt.

W enn sie zu schwach ist, um ans Telefon zu gehen, wenden sich die Leute nach einigen Tagen an mich. Ich habe meine Dinge, die ich in der Stadt erledigen muss, meine Freunde, meine Wünsche und Bedürfnisse, ich habe meine Arbeit, bei der ich versuche, so zu tun, als sei alles in Ordnung, und wenn es Abend wird, kehre ich völlig geschafft nach Hause zurück. Natürlich habe ich wieder einmal eine Essensverabredung abgesagt. Und sie sind zur Stelle, am ­Telefon. Es ist Abend, und sie melden sich, um die jüngsten Neuigkeiten zu erfahren. Nicht jeden Abend, oh nein. Selbst wenn es sie vielleicht reizen würde, sich täglich bei mir zu melden, ist die Angst zu stören dann doch zu groß. Daher begnügen sie sich mit ebenso rar gesäten wie flüchtigen Anrufen. Es dauert nie lange. Ich erkenne sie an ihrer zittrigen Stimme. Der dem Volke der alten Damen eigenen Stimme. Einer Stimme, die die darauf getrimmten Telefonverkäufer sofort identifizieren, denn diesen wehrlosen Alten kann man nun beispielsweise gut

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